Solinger Brandanschlag: Ein „wasserdichtes” Urteil?

von Otto Mann

„Urteil einhellig begrüßt” – so lautete die Schlagzeile des Solinger Tageblatts am 14.10., einen Tag nach dem Schuldspruch. Soweit sich das auf Presse und TV-Medien bezog, stimmte das auffällig. Dabei hatten die tags zuvor noch die Schelte des Vorsitzenden Richters bei der Urteilsverkündung über sich ergehen lassen müssen, sie hätten die Wahrheitsfindung behindert und Zweifel an der Schuld der Angeklagten in die Welt gestreut.

Vor dem Urteil hatten selbst in den regierungstreuen Medien erhebliche Zweifel überwogen bis zu der Konsequenz, daß die Rede ging, drei der vier Angeklagten würden voraussichtlich freigesprochen.

Solcher Erwartung entsprach obendrein auch die Polizeipräsenz in Solingen seltsamerweise sogar dann noch, als der Schuldspruch längst verkündet worden war. Die Polizei betätigte sich nur zum geringeren Teil im Personen- und Objektschutz, sondern agierte flächendeckend: Polizei, wo man ging und stand. Aber wer hätte denn groß Randale machen wollen – außer im Fall von Freisprüchen?

Nur wenige öffentliche Stimmen gab es, die sich nach der Urteilsverkündung überhaupt noch getraut hätten zu erwähnen: „Mit diesem Urteil hatten die wenigsten gerechnet” (Hamburger Abendblatt vom 14.10.).

Rosen für das Gericht

Denn unmittelbar nach der Verkündung des Urteilsspruchs wehten die Fahnen bereits ganz stolz im gedrehten Wind: Wie auf Pfiff war fast die gesamte Gilde der Berichterstattung im Schulterschluß zusammengerückt, um den Düsseldorfer Richtern Zustimmung und Anerkennung zu zollen: „Recht gesprochen” (WAZ vom 14.10.), „Höchststrafen für Solinger Mörder” (TAZ vom 14.10.), „Mörder, aber keine Märtyrer” (Kölner Stadtanzeiger vom 14.10.) usw. Führend im nachkartenden Draufschlagen mal wieder die BILD-Zeitung: „Die Feuerleger von Solingen – 4 verpfuschte Leben”.

Noch Zweifel?

Natürlich präsentierte sich das verurteilende Gericht in der Pose der Überzeugung: Es gebe keine Zweifel an der Täterschaft der Angeklagten. Das ist normal: Welches Gericht würde sich schon selbst bescheinigen, daß die erhobenen Beweise sein Urteil nicht tragen? Seltsam allerdings, wenn auch noch zutrifft, was das ST, die NRZ und die Frankfurter Allgemeine berichten: Der Vorsitzende Richter Steffen habe gesagt, es gebe keine „durchgreifenden” Zweifel, daß die Angeklagten die Täter waren. Doch sogar ob der Richter das wörtlich gesagt hat, ist bei näherem Hinschauen von untergeordnetem Belang. Denn das Gericht hat so geurteilt, als ob ein Zweifel „durchgreifen” müsse. Schöner könnte man aber den eigenen Hang zum Abwürgen von Zweifeln gar nicht kenntlich machen: Seit wann müßte ein Zweifel „durchgreifen”? Heißt es dann neuerdings etwa: „Im durchgreifenden Zweifel für den Angeklagten”?

Ganz im Ernst, das hört sich schauerlich an. Genauso wurde seinerzeit „Recht” gesprochen, als der braune Jubel das Recht längst erstickt hatte. „Ein Zeichen gegen Fremdenhaß” (Hamburger Abendblatt vom 14.10.) will die Öffentlichkeit in dem Urteil erblickt haben. Es wäre paradox, wenn dieses Zeichen auf der Sorte richterlicher Nonchalance im Umgang mit Zweifeln beruhte, die zwischen ´33 und ´45 ambach war.

Im Namen des Volkes…

Die meisten Leute außerhalb von Solingen hatten naturgemäß kein originales Wissen über die Brandanschlagsgeschichte. Insofern war es wenig verwunderlich, wenn landauf, landab eher geglaubt wurde, was man im Fernsehen sah und in den Zeitungen las: Mörder verurteilt, gut so.

Viele Solinger allerdings waren ganz anderer Meinung. Das ST ließ es sich nicht nehmen, am 20.10. eine Reihe von Leserbriefen zu veröffentlichen. Nur eine einzige der abgedruckten Stimmen bezeichnete die verhängten Gefängnisstrafen als „korrekt” … um im gleichen Atemzug die Todesstrafe zu empfehlen. In allen anderen Leserbriefen wurde das Urteil abgelehnt: „Es bleiben Zweifel” – „Unrecht mit Recht gesühnt?” – „Klassisches Bauernopfer?” – „Ein zu hoher Preis” – „Subjektive Vermutungen” – „Stand Urteil vorher fest?” – „Ist das Demokratie?” – „Was ist die Wahrheit?” „Die wirklichen Täter sitzen doch nicht in der ersten Reihe! Das wäre zu einfach!” „Wir haben das ungute Gefühl, daß hier das Prinzip ,im Zweifel für den Angeklagten‘ zugunsten von Staatsräson und Abschreckung geopfert wurde. Ein Opfer, um uns alle nach dem furchtbaren Verbrechen reinzuwaschen.” (ST-Leserbriefe vom 20.10.)

… ein außenpolitisches Signal…

Daß ein politisches Urteil gefällt worden sei – wer von denen, die an der Macht teilhaben oder sie anstreben, würde das zugeben? Mitten ins Dementi-Spektakel lieferten die höheren Politetagen selbst den besten Hinweis, daß bei den Schuldsprüchen das sog. höhere deutsche Interesse im Spiel war: Nicht die Justizministerin oder der Innenminister, sondern der Außenminister führte nach dem Urteil das große Wort in den Medien und verkaufte den Richterspruch freimütig als außenpolitisches Kapital. Nicht so komplett wie bei Kinkel war die Genugtuung türkischer Organisationen und Menschen. „Das ist zu wenig”, war die überwiegende Reaktion.„ Für diese Mörder sind die Strafen einfach zu mild.” „Der Prozeß und auch das Urteil sind eine Schande für das Volk.” „Oft denke ich, dieses Land geht noch einmal unter wegen seiner milden Gesetze” (Hamburger Abendblatt vom 14.10.).

… zur Verschärfung des Jugendstrafrechts?

Dorn im Auge wurde hier lebenden Türken das deutsche Jugendstrafrecht das Gefängnisstrafen bis zu 10 Jahren erlaubt. Vehement wurde dessen Untauglichkeit propagiert. Beispielhaft forderte der Hamburger SPD-Politiker Hakki Keskin, auch Jugendliche sollten bei rassistischen Gewalttaten in Zukunft „nicht unter 15 Jahren davonkommen” – er finde die Urteile „ungerecht”, die Strafmaße seien „einfach zu niedrig” und „nicht geeignet, in Zukunft rassistische Morde zu verhindern” (Hamburger Abendblatt vom 14.10.). Unter den Türken, die in Solingen wohnen, war die Reaktion nicht so einhellig. „Da mußten den Medien und der Öffentlichkeit Täter präsentiert werden.” „Wenn sie es wirklich waren, ist das Urteil zu milde. Waren sie es nicht, ist es zu hart. Wer weiß das schon?” (Kölner Stadtanzeiger vom 14.10.)

Gartmanns Lohn

„Das erdrückende Maß an Schuld, die kaum zu bemessende Dimension der Tat und das unsagbare Leid für die Angehörigen der Opfer sind nur durch die Höchststrafen zu sühnen”, sprach derselbe Richter Steffen, der dem als Mörder verurteilten Gartmann Strafmilderung gewährt hatte, am Ende seiner Urteilsbegründung. Was für ein seltsamer Vortrag des Richters! Die anderen Angeklagten sollten das Leid der Familie Genc; mit Höchststrafen sühnen, nur Gartmann nicht.

Wenn er aber schuldig und das Gericht hiervon überzeugt war, dann war Gartmann doch ein geradezu klassischer Fall für lebenslänglich. Man stelle sich doch mal vor: Ein Mann bringt auf bestialische Weise 5 Mädchen und Frauen um. Er gesteht, widerruft, gesteht wieder, dann sagt er wieder: Ich war’s nicht. – je nachdem, wie es ihm in den Kram paßt. Von Schuldbewußtsein, Respekt für die Opfer keine Spur. Sein Anwalt sagt: Junge, so geht das nicht, so kriegst du mit Sicherheit lebenslänglich, und diktiert einen Brief an die Angehörigen der Opfer, in dem der Mörder so richtig theatralisch den Reumütigen spielt. Bei nächster Gelegenheit allerdings widerruft der Mörder Geständnis und Reuebrief. Bis zum Schluß bleibt dem Mörder die eigene fürchterliche Tat und das Leid der Opfer völlig egal. Das Gericht stellt fest, daß er schuldfähig und ein Mörder ist und … gibt ihm 15 Jahre! Eigentlich undenkbar. Nun sollte man dann aber wenigstens meinen, die Staatsanwaltschaft, die natürlich lebenslänglich beantragt hatte, geht in Revision. Aber Pustekuchen!

Was Staatsanwaltschaft und Gericht an Gartmann so gut fanden: Das Urteil stütze sich, sagte Steffen, im Wesentlichen auf das Geständnis, in dem G. den Anschlag als gemeinsame Tat von vier Tätern bezeichnet hatte, von denen mindestens zwei ohne diese Aussage niemals überhaupt vor Gericht gestanden hätten (5. ST vom 18.10.: „Das Geständnis Gartmanns – eine Säule des Urteils”). Mit der Strafmilderung für G. würdigten die Richter also die Tatsache, daß sie ohne die Verwertung der Aussage Gs bei der Urteilsverkündung mit leeren Händen vor den Angeklagten B., K. und G. gestanden hätten. Daß nun das Gericht dem widerrufenden Gartmann den Strafrabatt als Lohn für die „Aufklärungshilfe”, die er gar nicht hatte leisten wollen, regelrecht nachtrug, ist widersinnig – und mehr als peinlich: Gartmann wurde ganz zum Schluß noch ein hausgemachtes Judas-Image verpaßt. Pech für die Richter, daß Judas bekanntlich einen verraten hatte, der unschuldig war.

Auf einer Säule ohne Fundament…

Nun war der rhetorisch unbedarfte Gartmann zu seinem „Geständnis” regelrecht erpreßt worden. Kripobeamte hatten ihm gedroht, man werde veranlassen, ihn der Gewalt inhaftierter Türken auszusetzen, wenn er nicht zugeben wolle, daß er ein Täter sei, und eventuelle Mittäter benennen würde. Wenn G. der Kripo das geglaubt oder Angst bekommen hat, ist durchaus möglich, daß er auf den Gedanken gekommen ist, es sei nützlicher für ihn, sich selbst und womöglich auch andere zu Unrecht zu belasten, und sich gleichzeitig dazu entschlossen hat, hieran, soweit eben machbar, auch festzuhalten.

Solche Fälle gibt’s in der Rechtsgeschichte zuhauf. Es waren die Alliierten, die das zusammengebrochene Nazideutschland nach dem Kriege zu verwalten hatten, die darauf bestanden, daß in der künftigen Strafprozeßordnung klar geregelt sein müsse, wie das urteilende Gericht in derartigen Fällen zu verfahren habe. Dabei kam der § 1 36a Strafprozeßordnung [Verbotene Vernehmungsmethoden] heraus:

Zwang darf nur angewandt werden, soweit das Strafverfahrensrecht dies zuläßt. Die Drohung mit einer nach seinen Vorschriften unzulässigen Maßnahme und das Versprechen eines gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteils sind verboten” (§1 36a StPO Abs. 1). „Aussagen, die unter Verletzung dieses Verbots zustande gekommen sind, dürfen auch dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmt” (§1 36a StPO Abs. 3).

Es ist daher offensichtlich, daß das eigentliche „Geständnis” Gartmanns unter das absolute Verwertungsverbot des § 136a StPO fiel, d.h. unter gar keinen Umständen im weiteren Prozeß gegen ihn oder andere hätte verwendet werden dürfen. Auch von hier aus fällt ein Licht auf die Relativierung von G.s Schuld in Gestalt des ihm gewährten Strafrabatts: Das Nicht-Verwertbare hat man verwertet, und weil man es gerne verwertet hat, zeigt man sich auf der anderen Seite auch nicht kniepig.

ein wasserdichtes Urteil…

Es bleibt aber dabei: Wenn er schuldig ist, dann hätte der als Mörder verurteilte Gartmann bei dem „erdrückenden Maß an Schuld” und „dem unsagbaren Leid” der Familie Genc; lebenslänglich bekommen müssen – so besagt es das geltende Recht, da beißt keine Maus den Faden ab. Ob man das begrüßt oder bedauert, ist völlig belanglos. Gericht und Staatsanwaltschaft wissen dies und haben doch nicht nach ihrem Wissen gehandelt..

Es sieht daher ganz so aus, daß die Richter sich nicht getraut haben, Gartmann lebenslänglich zu geben (der Zuspruch, auch im Ausland, wäre wohl noch deutlicher ausgefallen, wenn sie es getan hätten). Aber warum? Die Richter hatten doch nichts zu befürchten, im Gegenteil. Am Ende des Prozesses kommt man nicht darum herum wahrzunehmen: Der Strafrabatt für G. ist angesichts der Schwere der Tat ein vom Gericht selbst gelieferter Beweis dafür, daß die Richter von der Schuld G.s – deren „Maß” doch „erdrückend” gewesen sein sollte – und damit auch von der Täterschaft der Angeklagten G., B. und K. letztlich nicht restlos überzeugt gewesen sein können. Voll überzeugt hätten sie aber sein müssen, wenn sie einen Angeklagten verurteilen – so besagt es das Recht – nicht nur bei uns, sondern in allen Demokratien der Welt. Es ist einfach verboten, Unschuldige zu verurteilen, und damit man auch sicher geht, dürfen keine Zweifel an der Schuld des zu Verurteilenden bestehen bleiben. Es war schon ein armseliges Bild der Farce, wie sich ein Kommentator im Heutejournal des ZDF bereits am 13.10., dem Tag des Urteils, als Terminator aller Zweifel aufspielte: „Die Revision wird nicht durchkommen. Das Urteil ist wasserdicht.”

… mit klammen Verfügungen

Die Begründung ihrer Gewißheit von der Schuld der Angeklagten, wie sie seitens des Gerichts, der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger zu Schau gestellt wurde, gibt sich allzu nativ – und stellt die gegenteilige Überzeugung der Verteidiger in eine Ecke, die diesen nicht zukommt. Es handelte sich hier schließlich nicht um irgendein kriminelles Delikt, bei dem man die 5 auch einmal hätte gerade sein lassen können, sondern um ein von aller Welt verurteiltes verabscheuungswürdiges Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ein Anwalt, der in einem solchen Fall Freispruch für seinen schuldigen Mandanten fordert, müßte ein regelrechter Spitzbube sein. „Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum sich jemand selbst des 5fachen Mordes bezichtigt, dabei noch 2 seiner besten Freunde belastet und viele Details schildert”, erklärte Richter Steffen. Wenn das so einfach war, hätten sich das auch die Anwälte denken müssen, die auf Freispruch plädierten. Laut Urteil müssen 6 solcher Spitzbuben vor dem Düsseldorfer Gericht als Verteidiger aufgetreten sein. Allen voran Rechtsanwalt Greven, Düsseldorf, denn der prangerte die von der Staatsanwaltschaft geforderte Verurteilung seines Mandanten Köhnen, so sie denn Wirklichkeit würde, in seinem Plädoyer („Freispruch ohne Wenn und Aber”) als Staatsverbrechen an.

Daß ein bekannter Staranwalt so etwas tut, ist äußerst ungewöhnlich. Seinem Ruf kann so et-was nur schaden. Greven hatte also anscheinend keinen vernünftigen Grund dazu, sich derartig mit der Macht zu konfrontieren. Inmitten der allgemeinen gespielten Ratlosigkeit, sich Grevens Haltung zu erklären, mußte mal wieder der Gerichts-Guru Mauz vom Spiegel ran: „Der (Greven) ist ein künstlerischer Mensch. Die Skizzen, die er auf Reisen macht, sind anspruchsvoll, erzählen dem Betrachter etwas, sind keine Kritzeleien.”

Hieraus soll Mauzens Leserschaft dann lernen: „Er ist eher ein Mensch der Intuition, kein kalter Planer, aber gelegentlich, wie jeder lntuitive‘ seinen Intuitionen ausgeliefert.” Ebenso schön gesagt wie blanker Unsinn – und dieses ganze Geblubber nur, um Greven stellvertretend für alle anderen Anwälte, die darauf bestanden hatten, daß ihre Mandanten nicht verurteilt werden dürften, so richtig niederzumachen. Über Felix Köhnen, der den Brand entzündet haben sollte, berichtete die Presse, er habe die Richter im Saal als „Schweine” beschimpft und noch einmal seine Unschuld beteuert. In den Kreisen der Jugendlichen, mit denen Köhnen bekannt war, einschließlich seiner ehemaligen Klassenkameraden, hält sich unbeirrt die Kunde: Der war an dem Brandanschlag ganz bestimmt nicht beteiligt. Und Christian Buchholz? Alle über Gartmanns Geständnis hinausgehenden Umstände der Tat wurden in der Urteilsbegründung als Erklärung für das unaufgeklärte Tatgeschehen aufbereitet. Ob es das Weg-Zeit-Diagramm, die Frage nach dem Brandbeschleuniger, die Brandlegung selbst oder die Ausbreitung des Brands betraf, in allem erklärte das Gericht die Geschichte für wahr, die die Ermittlungsorgane konstruiert hatten. Daß die Ermittlungen selbst eine einzige Katastrophe waren, war völlig egal. Die Richter gingen sogar so weit, daß sie Christian Rehers Aussage, die unter ominösen Vernehmungsumständen zustandegekommen war, als zu G.s Geständnis „deckungsgleiche Version” würdigten, die „nicht durch Vorhalte der Vernehmungsbeamten” zustandegekommen sei. Bei dem skandalösen Verhalten, das eine Reihe dieser Beamten bei den Vernehmungen gezeigt hatte, und der darauffolgenden Mauerei als Zeugen vor Gericht dokumentierte diese Feststellung des Gerichts einen beispielhaften Akt von Hellseherei.

Wer so Wahrheitsfindung betreibt, wird am Ende im Reich seiner eigenen Vermutungen landen. Daß auf diese Weise keine konkreten Hintergründe des Verbrechens aufgedeckt werden konnten und Schmitt, Hak Pao und Konsorten reingewaschen wurden, wirkte am Ende nur gewollt. Mit der Begründung des Urteils in Schriftform werden sich dessen Fehler im nächsten Jahr noch weit schärfer herauskristallisieren. Ob dies den möglicherweise zu Unrecht Verurteilten viel nützen wird? Nur wenn das Revisionsgericht kein politisches Urteil fällen würde. So etwas zu hoffen, wäre wohl Träumerei. Das Revisionsgericht kennt seinen politischen Auftrag und wird ihn ausführen.

Anmerkung

Am 29 Mai 1993 wurden in Solingen fünf türkische Frauen und Mädchen durch einen Brandschlag ermordet. Das war der traurige Höhepunkt einer Terrorwelle gegen hier lebende Ausländerinnen, die bis heute anhält. Diese Anschläge wurden und werden durch rassistische Äußerungen von vielen Seiten angeheizt, u.a. durch die Diskussion um die Abschaffung des Asylgesetzes. Durch die Ungereimtheiten bei der Urteilsverkündung, wurde der Anlaß für den Prozeß in den Hintergrund gerückt. Die auf diesen Seiten dokumentierten Positionen zum Prozeßausgang, stellen jedoch keine einheitliche Meinung der Redaktion dar.

Rechtsstaat? – Ein Kommentar

Am 13.10.95 wurde das Ergebnis eines 1 1/2 Jahre andauernden Prozesses bekanntgegeben, von dem viele erwarteten, daß die Täter endlich verurteilt werden.

Die Medien liefen schon morgens um 5.30 Uhr heiß mit Vermutungen und Spekulationen über den Prozeßausgang an den so viele Menschen so hohe Erwartungen hatten. Die von den Medien beeinflußte Bevölkerung, die sich nicht weiter mit dem Fall beschäftigt hatte, wollte die jungen Täter, die schon seit 21/2 Jahren in U-Haft sitzen, verurteilt sehen in dem Glauben, daß dort auch die richtigen Täter sitzen. In dem Glauben, daß das BKA damals gründlich und gewissenhaft ermittelt hat und daß die Staatsanwaltschaft ja wohl keine Unschuldigen 21/2 Jahre im Gefängnis lasse.

Der sechste Strafsenat des Oberlandesgerichts enttäuschte, bis auf die Menschen die den Prozeß verfolgt haben, scheinbar keinen. Die 4 jungen Männer wurden alle des fünffachen Mordes und des 1 4fachen versuchten Mordes für schuldig befunden. Ein Urteil, daß auf den ersten Blick gerecht aussieht.

Wenn man sich allerdings etwas genauer mit dem Fall beschäftigt hat und auf vielen Prozeßtagen anwesend war, kommt einem eine gewisse Wut und Trauer im Bauch hoch.

Man fragt sich, wo sind die Aussagen von V-Mann Schmitt, wo sind die versuchten Geständnisse, wo ist die Aussage eines Angeklagten geblieben: „Ich war es alleine, die anderen haben damit nichts zu tun”, wo ist die Aussage von zwei Angeklagten geblieben „Ich bin unschuldig”. Wo ist die Aussage des vierten Angeklagten Ich mußte solange stehen bis ich gestand‘, wo sind verdammt noch mal die ganzen Zweifel an der Konstruktion des Weg-Zeit Ablaufs geblieben?

Es kamen in dieser langen Prozeßdauer immer mehr Zweifel an der Täterschaft von drei der vier Angeklagten zum Vorschein, die ein Urteil „Im Zweifel für den Angeklagten” mehr als nötig gemacht hätten. Ich frage mich, wie weit sind wir schon, daß wir in unserem Rechtsstaat Kinder verheizen, um von Ermittlungspannen abzulenken und uns im Ausland damit brüsten können „Der Rechtsstaat reagiert wirksam gegen Gewalt” oder „Wir sind auf dem rechten Auge nicht blind”.

Für mich, der den Prozeß aufmerksam verfolgt hat, ist dieses Urteil ein Schlag ins Gesicht eines jeden gerecht denkenden Bürgers. Es ist ein rein politisches Urteil, das mit der versuchten Wahrheitsfindung im eigentlichen Prozeß nichts zu tun hat. Als ich die Urteilsbegründung hörte, dachte ich, wozu man diesen langen Prozeß überhaupt machte, wenn man am Schluß die ganze Beweisaufnahme übersieht und sämtliche Zweifel unter den Tisch kehrt.

Ich kann nur jedem empfehlen, der einen Sinn für Gerechtigkeit besitzt, befaßt Euch mit dem Solingen-Prozeß und seinem Ergebnis intensiv. Bildet Euch Eure eigene Meinung und macht etwas!

Was am 13.10.1995 im Oberlandesgericht Düsseldorf abgelaufen ist, darf sich nicht wiederholen!

Clyde