Ungeachtet aller unterdrückenden Maßnahmen und moralischen Appelle nimmt die Anzahl der Drogenabhängigen in Deutschland weiter zu. Das Stadtbild der Großstädte ist heute mitgeprägt durch die nicht wegzudenkende Anwesenheit von Drogenabhängigen en masse – und dazu durch die gelebte schmuddelige Wirklichkeit in „Wirtschaftszweigen“ wie Beschaffungsprostitution, Kleindealerei und -hehlerei. Mit ständiger Polizeipräsenz an Drogenverkaufsplätzen, Rund-um-die-Uhr-Videoüberwachung des geschäftigen Treibens und ganzen Serien von Festnahmen meinten die strafverfolgenden Behörden zunächst noch, die Sache wieder in den Griff zu kriegen. Fehlanzeige. Die harte Drogen szene und ihr Umfeld zeigten sich davon mehr oder weniger ungerührt und breiteten sich weiter aus – ob die Polizei dabei zuschaute oder nicht, hatte letztlich keine Bedeutung. Daß die regierenden Politiker hieraus Bemerkenswertes gelernt hätten, war lange Jahre nicht zu sehen – dabei sprachen sogar die nackten Zahlen Bände: Die Anzahl der in Deutschland durch Drogeneinnahme ums Leben gekommenen Personen (Heroinabhängigen) stieg von 200 Toten Anfang der 80er Jahre auf über 2.500 Tote im Jahr 1992. Bis heute gibt es eine Front unbelehrbarer Politiker, die gewohnt vollmundig weiter auf Kriminalisierung und Desinformation, auf Ausgrenzung und soziale Entwurzelung von Drogengebrauchern setzt. Doch selbst die Unbeirrtesten tun sich schwer zu verbergen, daß auch sie – so wie fast alle – durch eines ins Wanken geraten sind: durch ihre eigene Angst vor Aids. –
Gesundheitsschutz: Eine Idee mit Konsequenz
Weggeworfene Spritzen unter Parkbänken auf Kindergartenplätzen – auch in Ohligs ist diese Anblick seit vielen Jahren eine vielbeobachtete grausige Wirklichkeit gewesen. In großer Sorge haben viele Eltern verlangt, daß etwas Konkretes getan wird, um ihre Kinder zu schützen – Gebrauchte Spritzen – mehr noch, als daß Kin: der sich daran verletzen können – sind geeignet, Krankheitserreger (ua. Aidsviren) zu übertragen Drogenabhängige unter starken Entzugserschenungen, die keine neue Nadel für die nächste Injektion zur Hand haben und nicht wissen, wo sie eine neue hernehmen sollen, nehmen 99 prozentig eine gebrauchte. Die ständige Gefahr des Virustransfers ist so deutlich wie die logische Konsequenz für die Politik: Wer will, daß sich Aids nicht weiter ausbreitet, sollte dafür Sorge tragen, daß Drogengebraucher – inmitten der Welt, in der sie kriminalisiert sind und als Unpersonen gelten – sauberes Injektionswerkzeug benutzen. Wie vorher schon in fast allen anderen großen Städten ist daher inzwischen auch in Solingen das Angebot eines Spritzentauschs eingerichtet worden, das sich an Suchtabhängige wendet, die sich Heroin und/oder andere Drogen injizieren. Die seit fast einem Jahr bestehende Einrichtung entstand aus einer gemeinsamen Initiative von Jugend- und Drogenberatung eV, AIDSHilfe, Notschlafstelle und dem Allgemeinen Sozialen Dienst Ohligs – auch die Jugendamtsleitung und das Gesundheitsamt federführend waren mit von der Partie.
Vom „Drogenbus“ zur festen Einrichtung
Als „Dach über dem Kopf“ diente zunächst ein Omnibus, den die Organisatoren von den Wuppertaler Stadtwerken ausgeliehen hatten. Standort war ein freier Platz auf einem städtischen Gelände in der Hansastraße hinter dem Ohligser Bahnhof. Seit dem 1.1.96 ist die Einrichtung in die untere Etage des vorneanliegenden Hauses im Besitz der Stadt Solingen) umgezogen. Viermal in der Woche können von 10 Uhr bis 13 Uhr gebrauchte Spritzen gegen neue ausgetauscht werden. Das Angebot ist von den Drogengebrauchern von Beginn an angenommen worden. Jede Woche werden viele hundert Spritzen getauscht Erfolg ist, daß die gebrauchten Spritzen nicht irgendwo herumliegen, und neue Spritzen dabei helfen, die Weiterverbreitung von Hepatits und Aids zu verhindern. Zudem ergibt sich über den Spritzentausch ein verbesserter Kontakt zwi schen den Drogenabhängigen aus dem Stadtteil und den Bediensteten der Einrichtung Ursprünglich ein Stein des Anstoßes („Was sollen bloß die Nachbarn dazu sagen?“), findet der Spritzentausch, von öffentlicher Hand getragen, inzwischen breite Zustimmung nicht nur bei den Nachbarn, sondern fast überall – neuerlich sogar auch bei den Parteien, die sich in Sachen Drogenpolitik ansonsten eher fürs Grobe stark machen und auf die segensreiche Wirkung von Kriminalisierung, Repression und Desinformation Setzen.
Umdenken in der Politik: Immerhin ein kleiner Lichtblick
Jahrzehntelang lebte die Drogenpolitik von dem Trugschluß, daß ein Süchtiger, wenn er nur ein sieht, daß ihm seine Sucht schadet, ausgerechnet unter verschärftem sozialem Druck in der Lage wäre, seiner Sucht ein Ende zu setzen. Das Gegenteil trifft zu. Wenn der soziale Druck zu stark wird, dann sieht oft sogar derjenige, der schon viele Jahre lang clean ist, irgendwann gar keine andere Chance, als sich wieder „zuzumachen“. Mit der Folge, daß der ganze Suchtkreisel immer wieder von vorne losgeht. Wer wirklich etwas gegen das Anwachsen des Drogenproblems tun will, muß dafür sorgen, daß dieses Kreislaufgeschehen durchbrochen wird. Alles andere ist leeres Geblubber, und kraftmeiersche Sprüche – die zumeist von Politikern oder Leuten stammen, die mit den Problemen gar nicht selbst befaßt sind – haben sich längst als sinnlos erwiesen, Die Politik der Ausgrenzung, Verfolgung und so zialer Entwurzelung von Drogenabhängigen hatte in der Tat maßgeblichen Anteil daran, daß auch denen, die wollten, ein Weg aus der Sucht komplett unmöglich gemacht wurde. Im Rahmen jener Ideologie wäre die Spritzenvergabe früher als Beihilfe zum Drogenkonsum angeprangert worden – heute gibt es Einigkeit wenig stens über diesen einen kleinen Schritt auf die Abhängigen zu. Der gibt Anlaß zur Hoffnung daß in Sachen Drogenpolitik doch nicht nur Blindheit gegenüber den Problemen zum Tragen kommt
Otto Mann