Interview mit Richard David Precht über Tierrechte und die Grenzen des Menschen

Richard David Precht promovierte über Robert Musil, lebt als Essayist und Journalist in Köln und beschäftigt sich seit er zurückdenken kann mit Tieren. Sein Ende 1997 im Rotbuch Verlag erschienenes Buch ”Noahs Erben – vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen” ist eine umfassende Kritik bisheriger Auffassungen über das Verhältnis Mensch – Tier – Natur.

Angesicht des kälter gewordenen sozialen Klima in dieser Gesellschaft finde ich Ihr Plädoyer für die Rechte der Tiere ziemlich mutig. Interessiert sich da heutzutage überhaupt noch jemand für?

Die großen Probleme der Gesellschaft sind seit Menschengedenken immer dieselben. Wem gehört was und weshalb, wem geht’s gut und wer fällt durch die Maschen. Dabei läßt sich etwas sehr Interessantes beobachten: Die Relevanz der jeweiligen Probleme – Arbeitslosigkeit, Hunger in der Welt, sozialer Ausgleich, ökologisches Desaster, Krieg und Frieden etc. ist nicht so sehr eine Frage danach, was objektiv das ”Wichtigste” ist, sondern ebenso eine Frage der Mode. Als die Studenten 68 auf die Straße gingen, kämpften sie für Ziele wie den Frieden in der Welt und für den sozialen Ausgleich zwischen der Ersten und der Dritten Welt. Nichts davon ist heute verwirklicht. Im Gegenteil ist die Lage heute trostloser denn je, und trotzdem ist die Diskussion heute in Mitteleuropa und Nordamerika schlichtweg out – Schnee von gestern. Etwas ähnliches passiert im Augenblick mit der ökologischen Sensibilität der 80er Jahre. Sicher, die Leute sortieren heute ihren Müll, so wie wir heute als Konsequenz von 68 keine Talare mehr in der Uni haben und dafür Pornofilme im Regal, aber der Schwung ist raus. Dabei ist die ökologische Lage des Planeten katastrophaler denn je. Jahr um Jahr werden fünf Prozent der Landfläche Opfer der Flammen. Gerade mal 6 Prozent sind heute noch mit tropischen Wäldern bedeckt. Trotzdem erleben fast alle großen Naturschutzorganisationen Spendenrückgänge, und Ökologie ist kaum noch ein Wahlkampfthema. Man muß damit leben, daß sich der Akzent modisch verschiebt, und viele Leute heute anderes im Sinn haben, als ein neues Naturverständnis. Andererseits gibt es in allen großen Menschheitsfragen auch einen Grund zum Optimismus. Wie bei jeder anderen Mode auch: es kommt alles wieder, und zwar in immer kleineren Abständen.

Sie sehen in der Bewegung gegen Massentierhaltung, Tierversuche, Gentechnik und Fleischkonsum Parallelen zur rebellischen 68‘er Generation.

Da gibt es viele Parallelen. Wohlstandskinder engagieren sich mit Spaß am Aktionismus gegen das herrschende Moralverständnis der Gesellschaft und fordern: Schluß mit der Doppelmoral und der Verdrängungskultur! Wir wollen, daß die Gesellschaft sich weiterentwickelt und ethisch ”besser” wird! Und wie bei den 68ern, so stellt sich auch bei den Kindern von Peter Singer und McDonalds die Gretchenfrage: Wie halten wir’s mit der Gewalt. In den USA und in England gibt es autonome Tierrechtler die systematisch Terroranschläge durchführen. Die großen deutschen Tierrechtsinitiativen wie animal peace, lehnen Gewalt ab. Aber auch bei uns kommt es immer wieder zu Anschlägen auf Metzgereien oder Pelztierfarmen.

Die Forderung das Verhältnis Mensch-Tier-Natur neu zu bewerten und eine dementsprechende Korrektur des vorherrschenden Weltbildes herbeizuführen ist für Sie auch eine Voraussetzung für die Befreiung der Menschen von Rassismus, Unterdrückung und Ausbeutung?

Die Entfremdung des Menschen von der Natur und damit auch jene vom Tier geht Hand in Hand mit religiösen Daseinsbestimmungen und gesellschaftlichen Erklärungsmodellen. Je gewaltiger der Mensch über etwas zu herrschen vermag, desto seelenloser erscheint ihm das Beherrschte. Die fehlende Sensibilität wiederum ist die Voraussetzung für die Entfaltung eines rücksichtslosen Machtsystems. Das schaukelt sich wechselseitig hoch, und ist gewiß nicht einfach zu korrigieren. Denken Sie nur an die Sklaven- und die Frauenfrage. Es dauerte Jahrtausende, bis die Sklaverei in Mitteleuropa abgeschafft war und die Gleichberechtigung der Frau ist selbst bei uns noch immer nicht vollständig erreicht. Die Frage nach der Natur und dem Umgang  des Menschentieres mit anderen Tieren bewegt sich im gleichen Rahmen, der für alle Korrekturen der Macht gilt: Den anderen trotz unserer machtvollen Überlegenheit als anders zu achten, ihm das Recht zuzugestehen, in seiner Andersheit glücklich zu leben, ist die Herausforderung auch in der Tierethik.

Der Professor für Philosophie und Direktor des ”Centre for Human Bioethics” in Melbourne, Peter Singer gilt als der ”Messias” der Tierrechtsbewegung. Hat Singers Theorie nicht einen gefährlichen ”Pferdefuß”, wenn er zum Beispiel das Leben eines gesunden Schweines im besten Schweinealter höher bewertet, als das eines Kleinkindes oder Schwerstbehinderten?

Es gibt viele Punkte, in denen ich mich von Singer unterscheide. Singers Ansatzpunkt ist das Gleichheitsprinzip allen leidensfähigen Lebens. Ich hingegen gehe von der Verschiedenheit allen Lebens aus, von Art zu Art und von Gattung zu Gattung. Das hört sich vielleicht etwas haarspalterisch an, führt aber zu wichtigen Unterschieden der Argumentation und der Schlußfolgerungen. Und noch ein zweiter Punkt ist sehr wichtig: Singer unterschlägt den Artegoismus. Jedes höherentwickelte Tier hat ein Interesse am Fortbestand seiner Art, bzw. an seinem individuellen Reproduktionserfolg. Das gilt natürlich auch für den Menschen. Man kann das nicht einfach wegkürzen und sagen, daß ist böser ”Speziesismus”. Was wir jedem Tier zugestehen, sollten wir auch dem Menschen zugestehen: die Angehörigen seiner Art (und hier vor allem, diejenigen, die ihm emotional nahestehen) anderen Spezies vorzuziehen und im Entscheidungsfall lieber den Säugling als einen Hund aus dem brennenden Haus zu retten.

Mein erstes gelesenes Buch, zu dem Thema der Menschwerdung aus dem Tierreich heraus, war Friedrich Engels Schrift ”Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen”. Dies hat mein historisch-materialistisches Weltbild geprägt. Nebenbei gesagt, haben wir damals den Titel auf die Kurzformel vereinfacht: ”Der Affe auf dem Weg zur Arbeit”. Welchen Titel finden Sie symphatischer? Und welchen Stellenwert räumen Sie dem Gebrauch von Werkzeugen, der Beherrschung des Feuers, der Jagd und allgemein der Arbeit, bei der Herausbildung des menschlichen Gehirns ein?

Der Begriff der Arbeit ist nicht festgeschrieben. Er wird in verschiedenen Zeiten und Kulturen sehr verschieden gedeutet und hat auch einen anderen Stellenwert. Die Ureinwohner Indonesiens zum Beispiel glaubten, daß die Orang-Utans ”Waldmenschen” seien, die aus weiser Einsicht auf den Gebrauch der Sprache verzichteten um nicht arbeiten zu müssen. Versuchen Sie einmal mit Engels Begriff der ”Arbeit” hier etwas anzufangen!

Was die ”Menschwerdung” anbelangt, so weiß heute kein Wissenschaftler zu sagen, wo sie eigentlich anfängt. Beim Australopithecus, der als erster den aufrechten Gang wählte, beim Homo erectus, der die ersten Steine zurechtklopfte, oder erst beim Homo sapiens, dem geschickten Werkzeugmacher und Großwildjäger. Alles drei sind völlig verschiedene ”Arten”, die ausgesprochen lose miteinander verwandt sind.

Im übrigen gehen heute fast alle bedeutenden Paläoanthropologen davon aus, daß das Sozialverhalten der wichtigste Motor der menschlichen Evolution ist. Die damit zusammenhängenden Fähigkeiten verbrauchen übrigens auch die meiste Speicherfläche im Gehirn. Doch weder das Sozialverhalten, noch eines der anderen wunderschönen Kriterien, die sich Menschen ausgedacht haben, um ihre Sonderstellung zu rechtfertigen, reicht wirklich hin, im Menschen etwas völlig Außergewöhnliches zu sehen: weder die Arbeit, noch der Gebrauch von Werkzeugen, die sogenannte ”Vernunft”, die Willens- und Entscheidungsfreiheit oder die Sprache. Entweder Sie finden manches davon auch im Tierreich – Schimpansen die Werkzeuge gebrauchen, Wale, die eine hoch komplexe Sprache besitzen etc. – oder aber sie finden es nicht bei allen Menschen. Denken Sie an die von ihnen angesprochenen Säuglinge und Schwerst-behinderten. Es gibt kein Kriterium, das alle Menschen von allen Tieren unterscheidet.

Was bedeutet das alles für die Praxis? Dürfen wir Tiere nicht mehr essen, weil wir uns von ihnen nicht klar unterscheiden? Doch ohne fleischliche Ernährung könnten zum Beispiel Eskimos nicht leben. Sie schreiben ja auch, daß das Züchten, Töten und Fressen von Tieren eine historische Notwendigkeit war für die Existenz unserer heutigen menschlichen Kultur und Zivilisation. Warum sollte dies heute anders sein?

In der Arktis oder in Wüstengebieten kann man kein Vegetarier sein. In Westeuropa hingegen muß niemand heute noch Fleisch essen, um gesund zu leben. Jeder Arzt kann dies bestätigen. Wir fügen Tieren millionenfaches Leid zu, nur für Gaumenfreuden. Da ist es immer gut zu wissen, daß die Grenze von Mensch und Tier in der bestehenden Form Unsinn ist. Denken Sie nur an den schönen Vers von Franz Josef Degenhardt: ”Man verzehrte Artgenossen, selbst das liebenswerte Schwein / Doch die aufrecht gehen konnten, fraß man nicht – man grub sie ein!”

Bei Diskussionen über Ihr Buch melden sich nicht nur, über den Vorwurf der ”Lusttötung” empörte Jäger zu Wort, sondern auch Menschen, die eine ”Reduzierung der menschlichen Rasse” einfordern. Sind Tierrechtler und – Schützer besonders empfänglich für sozialdarwinistische Ideen?

Wo es um Ethik geht, tummeln sich viele Spinner. Das ist überall so, und natürlich gibt es auch im Umfeld von Tierrechtsbewegungen den einen oder anderen Idioten. Selbstverständlich ist die Bevölkerungsexplosion ein gewaltiges ökologisches und soziales Problem, nicht nur für Tierrechtler. Aber kein Tierrechtler, den ich kenne, forderte eine gewaltsame Reduzierung der Menschen. Die Idee besteht ja darin, alles leidensfähige Leben zu achten und damit selbstverständlich auch das des Menschen.

H.O.Bones