Die tacheles Redaktion hat sich vorgenommen umfassender über das Geschehen in Solingen zu informieren, deshalb wollen wir in Zukunft einen Blick auf die Ereignisse zurückwerfen, die nach dem Erscheinungsdatum der letzten tacheles die Stadt im Bann gehalten haben und über die wir nicht berichten. Hierzu gehört auch ein etwas intensiveres Studium der beiden Solinger Tageszeitungen (ST u. SM), die ja hauptsächlich die öffentliche Meinung über die kommunalen Geschehnisse bestimmen. Dieses erste Mal werden einige Aspekte (Betriebsschließungen, Stadtwerkefusion etc.) außer Acht gelassen, da der Verfasser dieser Zeilen leider nicht genug Disziplin aufbrachte rechtzeitig alles zu verarbeiten
Immer wieder auffallend bei der Lektüre des ST und der SM ist, daß diese davon ausgehen, daß in Solingen zwei verschiedene Arten von Bürgern leben. Bei den Berichten über Kapitalverbrechen oder den Gerichtsreportagen liest man permanent entweder über den Solinger der etwas verbrochen hat, oder den Türken oder Italiener.. der dies oder das angestellt hat. Scheinbar ist der vielleicht schon seit seiner Geburt hier lebende Bürger ausländischer Nationalität gar kein Solinger. Wir fragen uns deshalb weiter, ob der Solinger Verbrecher in Wahrheit nicht doch ein in Wuppertal oder noch wahrscheinlicher gar ein in Remscheid Geborener ist. Und falls dies nicht der Fall sein sollte, wäre eine Aufschlüsselung nach Ortsteilen von enormen journalistischen Interesse, denn auch fast siebzig Jahre nach dem Zusammenschluß der fünf einst selbständigen Gemeinden, gibt es immer noch genügend Vorbehalte gegen die anderen Stadtteile. Das Böse kommt aus Ohligs oder Höhscheid .., oder vielleicht aber auch nur aus der Mummstr. und dem Eiland.
In den Ausgaben des ST vom 7.1. und 10.1 beschäftigt sich Stefan M. Kob mit dem Ende des Bibo. Genüßlich stellt er fest, daß die Grünen eine völlig etablierte Partei geworden sind und fordert zu unserer Begeisterung die Grünen auf, ihr neues Büro in der Clemens Galerie einzurichten. Auch wenn er mit großer Freude in seinen Artikeln, die von uns gewählten Metaphern (Schmuddelkinder, Geburtshelfer etc.) übernimmt, scheint er keine hohe Meinung von uns zu haben, sieht er doch in uns ein linkes Kampfblatt. Da rufen wir beleidigt (und um ihn in seiner Meinung über uns zu stärken) zurück, du lohnschreibender Scherge des Kapitals, du der nicht mal tacheles richtig schreiben kannst.
Im ST vom 29.11. bestätigt unser OB unsere Vermutung, daß mit der Umgestaltung des Mühlenplatzes verschiedene soziale Gruppen aus der Stadtmitte vertrieben werden sollen. Im Tageblatt wird er so zitiert: „Man muß mit diesen Menschen gemeinsam eine Lösung finden. Verdrängen allein genügt nicht.“ Was Herr Uibel mit diesen Mitbürgern vorhat, bleibt ganz und allein der Phantasie unserer Leser überlassen. Perfide in diesem Zusammenhang finden wir, daß Obdachlose, die am Karnevalszug als Vertriebene vom Mühlenhof teilnahmen, von der Jury , die die schönsten nicht professionellen Wagen auszeichnete, einen Sonderpreis erhielten. Erst verdrängen die Honoratioren dieser Stadt mißliebige Mitbürger aus der City, um dann bei Karneval den Protest mit sage und schreibe 100,- DM zu würdigen. Nicht mal ihr „soziales Gewissen“ ist ihnen mehr wert.
Daß die Solinger Jecken einen eigenartigen Humor haben bewiesen sie auch, als sie den Techno-Wagen vom diesjährigen Umzug ausschlossen. Nach massiven Protesten darf dieser jedoch nächstes Mal wieder teilnehmen. Die Initiatoren überlegen sich aber, ob sie nächstes Jahr nicht nach Wuppertal ausweichen sollen. Der Ausschluß war passend zum Motto des Zuges „Typisch Solig“, hier ist einfach kein Platz für die Jugend oder andersartiger Kultur. Auch wenn sich durch die Eröffnung des Havanna-Clubs (in dessen Räumen unser Che mal wieder verkitscht wird) und der wiedergegebenen Nachtkonzession für die Libelle ein bißchen im Solinger Nachtleben getan hat, treffen uns zwei vorläufige Schließungen gravierender. Die Cobra wird umgebaut und vom Solinger Gastronom Jungk übernommen. Es ist zu befürchten, daß nun das Gräfrather Flair auch noch nach Merscheid getragen werden soll. Außerdem hat der Keller zu. Coco wir vermissen dich! Komm sofort zurück!
Auch das Getaway gibt Anlaß zur Sorge. Ende des Jahres wurde bekannt, daß ausländisch aussehenden Besuchern der Zutritt verwehrt wurde. Laut Get trugen hauptsächlich diese Gruppen den Drogenhandel in die Disco und benahmen sich unzüglich gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Diese generelle Einlaßsperre wurde inzwischen aufgehoben. Hausverbote gegen die vermehrt dort verkehrenden rechten Skins gab es jedoch noch nicht in diesem Umfang. Wir bleiben in dieser Frage am Ball und werden in der nächsten Ausgabe ausführlich über dieses Thema berichten.
Nicht nur im Get machen sich rechte Skins breit. Insbesondere in Ohligs und Wald treten sie immer massiver auf. Ende November randalierten 15 Skinheads in Wald und wehrten sich gegen eine polizeiliche Überprüfung ihrer Personalien. In Ohligs schlug ein Skin einen Besucher bei Verlassen einer Gaststätte mit einem Schlagring nieder. Der Held konnte sich in dieser Situation seiner sicher sein, da er von etwa dreißig Glatzen begleitet wurde.
Passend zur wieder aufkommenden rechten Gewalt wurde am 9.1. in Ohligs das Landeszentrum für Zuwanderung eröffnet. Wie die Behörden in Solingen mit Zuwanderern umgehen erfuhren ein tschechischer Eishockeyspieler und eine Bosnierin. Der Tscheche hatte eine Ausbildung als Krankenpfleger beendet und war über die Weihnachtstage in seiner Heimat. Seine deutsche Freundin beauftragte er in dieser Zeit seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Der zuständige Beamte zog den Paß des Tschechen daraufhin ein, als die Freundin den Antrag stellen wollte. Erst nach wütenden Protesten erhielt sie diesen zurück. Eine Aufenthaltsgenehmigung wurde nicht erteilt, obwohl er den Nachweis erbringen konnte eine neue Stelle zu haben. Pech gehabt, würde er besser Eishockey spielen und in der Lage sein, Nationalspieler zu werden, hätte sich sicher sogar Herr Kinkel für ihn eingesetzt. Jetzt gilt: ab dafür. Die Bosnierin wurde in einer Dezembernacht von Mitarbeitern eines Übergangswohnheim auf die Straße gesetzt. Sie hatte nur dünne Kleidung an und ihre drei Kinder dabei, darunter ein acht Tage altes Baby. Unterstützung fand die Frau zum Glück von einer couragierten Nachbarin. Das Landeszentrum scheint in der richtigen Stadt plaziert zu sein. Die Solinger Verwaltung hat bewiesen, daß sie bis in den untersten Etagen hinein bereit ist, die jetzige Flüchtlings- und Ausländerpolitik im vorauseilenden Gehorsam zu erfüllen.
Gerd Kunde