Journalistische Lehrjahre in der Provinz
„Ne Kopp voll nix, nur die paar instinktive Tricks et duhrt lang, besste dich durchblicks“
(Wolfgang Nideckens BAP; Verdamp lang her“ EMI-Musikant, 1C 064-46438)
Jeder Journalist, der einigermaßen was auf sich hält, weiß von prägenden Ereignissen aus den Anfängen seiner Laufbahn zu berichten. Da hat dann ein legitimer Nachfahre Emile Zolas – manchmal tut´s auch Egon Erwin Kirsch – in einer Redaktionsstube in der Provinz gesessen und einigen Leuten kräftig ein´s eingeschenkt. Als Kontrahenten eignen sich insbesondere einflußreiche Filzokraten aus der kommunalpolitischen Szene, denen man die Wirksamkeit der Waffen journalistischer Kritik nachhaltig zu demonstrieren wußte. Solche Begebenheiten wollen mir partout nicht einfallen, wenn ich an jene beiden Jahre denke, die ich als Volontär einer mittleren Tageszeitung zugebracht habe. Ich meine, ich habe mich auch nicht gerade zum Bierholen schicken lassen, aber spektakuläre Auseinandersetzungen, aus denen sich nachträglich ein paar an Herz & Unterleib greifende gesellschaftskritische Anekdoten schlagen ließen, die gab es einfach nicht.
Was Wunder: Ich arbeitete in einer Zone geistiger Windstille. Alles das, was in den Jahren 1966 bis 1968 diese Republik bewegte, spielte sich außerhalb meiner Stadt ab. Es war die Zeit der Großen Koalition: Ein Polizist namens Kurras erschoß den Studenten Benno Ohnesorg, ein gewisser Axel Caesar Springer wurde immer mächtiger, es gab den studentischen Protest gegen den Krieg in Vietnam, das Attentat auf Rudi Dutschke – für mich waren das Agenturmeldungen, Funkbilder, Tagessschaufilme, Kommentare in der ‘Frankfurter Rundschau‘ und Berichte in der „Zeit´, schließlich ein rororo-Taschenbuch: „Was wollen die Studenten?“. Nicht, daß die Nachrichten über ferne Auseinandersetzungen mich nicht beunruhigt hätten – ich fühlte mich durchaus als Sympathisant jener Leute, denen man (schon damals) die Köpfe blutig schlug – bloß: die Frontlinie verlief woanders, ich war anpolitisiert, aber hilflos, konnte allenfalls moralische Verbindungslinien ziehen zwischen den studentischen Kampf und meiner täglichen Arbeit. Und so fuhr ich denn am Karsamstag 1968 nach den Schüssen auf Rudi Dutschke voll Wut und Trauer mit meiner damaligen Freundin, späteren Verlobten und nachmaligen Ex-Frau von Solingen nach Köln, um an einer Demonstration gegen Springer und die Manipulationspraktiken seiner Zeitung teilzunehmen, den Rat eines verunsicherten älteren Kollegen noch im Ohr, der gerade einen Anstellungsvertrag bei Springers ‘Welt´ unterschrieben hatte: „Um Gottes willen, demonstrieren Sie!“ Dazu war ich bereit, schon aus Gründen der journalistischen Ethik, aber knapp vorbei ist halt auch daneben; wir verpaßten die Demo, weil wir den Sammelplatz nicht fanden. – Um beim Berufsethos der Journalisten zu bleiben: Da diese Gattung von Menschen professionell dazu verpflichtet ist, auch aus total versägten Situationen noch was Brauchbares zu machen, sind wir dann einfach ins Kino gegangen und haben uns „Easy Rider“ angesehen – ein Verfahren, das politisch sicherlich anrüchig sein mag, von mir aber schon oft mit Erfolg praktiziert worden ist und sich zur Nachahmung durchaus empfiehlt.
Exkurs über die Provinz
Die Redakteure der Brokhaus-Enzyklopädie haben ihre Schwierigkeiten mit der Beschreibung der Realität. So behaupten sie in Bd. 15 ihres monumentalen Werkes unter dem Stichwort ‘Provinz‘: „In der Bundesrepublik Deutschland gibt es in keinem Land mehr P. (…)“. Staatsrechtlich mag das ja auch stimmen, aber was andere Konnotationen des Begriffs angeht, so könnte ich Ihnen einiges erzählen. Zum Beispiel über Solingen. Das ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, zur Schule ging, Foxtrott lernte (1963?), Abitur machte (1966!), ein Redaktionsvolontariat beim ‘Solinger Tageblatt´ absolvierte (1966-68). Mal sehen, was mir dazu, neben dem „Bergischen Heimatlied“ („Wo die Wälder noch rauschen …“) einfällt. Also: 174 000 Einwohner, aber keine richtige Großstadt – sehr flächig angelegt, weil aus fünf ursprünglich selbständigen Gemeinden zusammengewachsen. Viel metallverarbeitende Industrie (Spezialität: Schneidwaren), aber kein industrieller vom Zuschnitt der Städte an der Ruhr. Angesichts japanischer und italienischer Konkurrenz ist man hier seit geraumer Zeit übrigens damit beschäftigt vorzuführen, was denn eigentlich eine Strukturkrise ist. Jede Menge Männergesangsvereine, aber nicht das, was man eine Kulturszene nennen könnte. Das Stadttheater registriert immer dann Besucherrekorde, wenn die „Csárda´sfürstin“ gegeben wird. Außerdem hat es da 1. eine Innenstadt, deren prägende städtebauliche Akzente von Karstadt, Kaufhof und Sparkasse gesetzt wurden; 2. eine Fußgängerzone, die der von Gießen, Kassel oder Braunschweig fast bis auf die Waschbetonplatte gleicht; 3. eine größenwahnsinnige Verkehrsplanung, die sich 1966 schon anschickte, jene wenigen Gebäude im Stadtkern, die 1944 nicht von der Royal Air Force in Trümmer gelegt worden sind, unter nahezu einhelliger Zustimmung sämtlicher Fraktionen des Kommunalparlaments zum Abriß freizugeben. Ansonsten: Ein mehr als mäßiges Kinoprogramm, viele Heimatfeste („Hahneköpper“) und Überreste einer traditionsreichen, kämpferischen Arbeiterbewegung. Die ‘Bergische Arbeiterstimme´ wurde in der „Junius-Broschüre“ über „Die Krise der Sozialdemokratie“ (1916) auch schon mal von Rosa Luxemburg zitiert, der kommunistische Meisterspion Richard Sorge war in den zwanziger Jahren Redakteur in Solingen, die KPD erzielte bis in die 50er Jahre Wahlrekorde.
Schließlich: Carl Friedrich Goerdeler, einer der deutschnationalen Widerstandskämpfer gegen Hitler, war von 1912 bis 1920 Beigeordneter in Solingen. Das sind halt die alten Geschichten, mit denen diese Stadt sich auch heute noch gerne schmückt. Aber es geht ihr damit wie mit ihrem Stadtbild: Die Nivellierung auf bundesdeutsches Normalmaß ist nicht zu übersehen. Aktuelle Lage: Einige wenige Scene-Kneipen (u. A. „Mumms“ auf der Mummstraße) in denen ein paar Figuren aus der in Solingen verbliebenen Intelligenz seit 1968 erfolgreich bemüht sind, eben den Rest derselben zu versaufen, zwei Zeitungen (immerhin!) nämlich das `Solinger Tageblatt´, bei dem ich zu fronen pflegte, und die wesentlich kleinere `Solinger Morgenpost´ – dies ein Ableger der ursprünglich erzkatholischen `Rheinischen Post´ („Christ & Geld“) in Düsseldorf, die man in Solingen auch als „Rheinische Pest“ zu ironisieren gewohnt ist. Viel mehr gibt´s über diese Stadt nicht zu berichten – 1968 war das auch nicht anders, bloß das Bier im „Mumms“ war damals noch billiger und die KPD/AO Kader hatten bis in die frühen 70er Jahre noch ihren missionarischen Blick. Ja, so war das – nichts Besonderes, das Modell Deutschland seit nahezu 20 Jahren in der Nußschale. Ein paar Figuren aus der Kommunalpolitik sind ausgewechselt worden, die CDU erfreut sich mittlerweile einer Bürgerblockkoalition mit der FDP – für die Journalisten am Ort heißt auch das: „Business as usual.“
Wolfgang Stenke