Direkte Demokratie – nur eine Utopie?

Am vermeintlichen ”Ende der Geschichte” angelangt, wird uns eingeflößt, in unserer Zukunft könne nur noch die kapitalistische one world liegen. Utopien seien allesamt totalitär oder zum Scheitern verurteilt, deshalb solle man Abschied nehmen von allem Nachdenken über „trügerische Glücksverheißungen“.

Doch es ist fraglich, ob wir auf lange Sicht so (über)leben können: Mit dem sicheren Gefühl, daß das Streben nach Profit der alleinige Motor menschlichen Lebens sein soll. Mit der Gewißheit, daß die Auflösung von sozialer Verantwortung, die Zunahme der Vereinzelung und das Voranschreiten des Ohnmachtsgefühls gegenüber den Veränderungen der Umgebung unabänderlich ist.

So kommt es, daß das Thema Utopie trotz allem eine Renaissance erlebt. Das ‘Nirgendland’, wie Utopie im griechischen Wortursprung heißt, kann es nicht geben. Aber es veranlaßt immer wieder Menschen, darüber nachzudenken wie es denn in einer gerechteren und glücklicheren Gesellschaft aussehen könnte.

Es gab in der Geschichte aber auch immer wieder kurze Lichtblicke, in denen die Menschen erfolgreich versuchten, ihr Joch ein stückweit abzuschütteln, um ihre gelebte ‘Utopie’ zu verwirklichen. Die meisten dieser Glücksfälle einer ansonsten eher traurig stimmenden Vergangenheit sind fast vergessen. Die Selbstverwaltung der ArbeiterInnen und LandarbeiterInnen in Katalonien 1936/37 ist vielleicht der bekannteste. Aber wer kennt schon Palmares, die im 17. Jahrhundert 94 Jahre im Nordosten Brasiliens bestehende Republik der der Sklaverei entflohenen Schwarzen? Und was passierte in Fatsa 1979/1980?

Die Veranstaltungsreihe ”Land und Freiheit” im Autonomen Zentrum Wuppertal will die verdrängten Kämpfe, Orte, wo Menschen schon mal ‘was versucht haben, ”befreite Zonen vor der Revolution” geschaffen haben, in unser Bewußtsein rufen.

Am 15. 4. 1997 wurde hier der Versuch vorgestellt, direkte Demokratie in Fatsa, einem kleinen Ort an der türkischen Schwarzmeerküste einzuführen. Im gutgefüllten Saal des AZ waren – eher ungewöhnlich für die ansonsten doch sehr deutschen Autonomen – mehr BesucherInnen türkischer als deutscher Herkunft anwesend. Der Vortrag des Referenten, der die Ereignisse in Fatsa vor Ort miterlebt hatte wurde lebhaft diskutiert; Anwesende brachten ihre eigenen Erlebnisse und ihre abweichenden Einschätzungen ein. Die in Deutschland doch recht unbekannte Geschichte der türkischen Linken vor dem letzten Militärputsch 1980 wurde für einen Moment lebendig.

Wie bei allen Versuchen in der jüngeren Geschichte, eine direkte Demokratie einzuführen, lag auch 1979 in Fatsa eine besonders zugespitzte Situation der gesellschaftlichen Auseinandersetzung vor. Aus dem Ver-teidigungskampf der Bevölkerung gegen faschistische Übergriffe in einer Zeit des unerklärten Bürgerkrieges entstanden Volks- oder Stadtteilkomitees, die neben der antifaschistischen Arbeit konkrete Hilfestellung im Alltagsleben organisierten.

Der Aufbau der Komitees wurde von der Organisation Devrimçi Yol (Revolutionärer Weg) stark vorangetrieben. Diese war in der Organisationsstruktur und in der ideologischen Ausrichtung nicht so dogmatisch wie andere Gruppen der türkischen Linken: So gab es z. B. keine Kaderaufnahmeprozedur, sondern jeder/jede, der/die SympathisantIn war, konnte mitmachen.

An den Volkskomitees konnten alle EinwohnerInnen teilnehmen. Sie entwickelten sich zu einem wichtigen Selbstverwaltungsorgan der Bevölkerung. Während die linken türkischen Organisationen in anderen Teilen des Landes zum Wahlboykott aufriefen, forderte die Bevölkerung von Fatsa die Devrimçi Yol zur Kandidatur auf: „Hier gibt es Kommunalwahlen, also macht doch was.“ Auf den von der Devrimçi Yol unterstützten Bürgermeisterkandidaten Fikri Sönmez wurden zwei Mordanschläge verübt, die er überlebte. Er erhielt im Oktober 1979 3064 Stimmen, während die beiden Kandidaten der Rechten und der Sozialdemokraten zusammen nur auf ca. 1900 Stimmen kamen.

Sofort wurden neben den offiziellen Strukturen Volkskomitees in jedem Stadtteil gebildet. Dafür wurde die Anzahl der Bezirke von 7 auf 11 vergrößert, um die Verankerung der Komitees in der unmittelbaren Wohnumgebung zu stärken. Alle Entscheidungen wurden zuerst in den Volkskomitees von der Bevölkerung diskutiert und gefaßt, danach wurden die Entscheidungen vom Stadtrat nachvollzogen. Fatsa wurde zum Hoffnungsträger für die gesamte türkische Linke. Große infrastrukturelle Probleme wurden angepackt. In 5/6 Monaten wurden Dinge gelöst, die vorher 5/6 Jahre brauchten: Die Elektrizitätsversorgung, die Wasserversorgung und der Straßenbau wurde erheblich verbessert, weil die Bevölkerung sich an den öffentlichen Arbeiten beteiligte. Der Schwarzmarkt, der von korrupten Abgeordneten beliefert wurde, konnte ausgetrocknet werden. Die Volkskomitees beschlossen, die Überfischung des Meeres mit Schleppnetzen zu verbieten, um die Lebensgrundlagen der Fischer zu erhalten. Die Haselnußbauern, ein wichtiger Erwerbszweig in Fatsa, konnten ihre Probleme lösen, indem sie den Zwischenhandel selbst organisierten. Das gewachsene Selbstbewußtsein der Menschen führte dazu, daß ein großes Problem der Jugendlichen gelöst wurde: Sie wehrten sich endlich gegen die vielen Lehrer, die die „Prügelstrafe“ praktizierten und konnten diese schließlich erfolgreich daran hindern. An den Abstimmungen der Volkskomitees beteiligte sich etwa ¼ der Bevölkerung, betrachtet man den Anteil der Bevölkerung, der  Anteil  an  den  Beschlüssen  der repräsentativen Demokratie nehmen kann, so ist dies eine außergewöhnlich hohe Zahl.

Frauen waren an den Volkskomitees stark beteiligt. Hier drückte sich auch der hohe Anteil an Arbeit aus, die die Frauen in der Stadt und als Landarbeiterinnen auch vorher schon bewältigten. Fatsa war ein Experiment, das in seiner Wirkung auch Devrimçi Yol überraschte. Die Volkskomitees wurden die Orte einer basisdemokratischen Organisierung der Gesellschaft. Die klassische staatliche Exekutive verlor ihre bisherige Rolle. Die bürgerliche Presse der Türkei berichtete zunächst negativ über Fatsa, nach einem sehr erfolgreichen Kulturfest in Fatsa, das von vielen türkischen Kulturschaffenden mitorganisiert und besucht wurde, änderte sich die Berichterstattung jedoch und wurde positiv.

In diesem Moment wurde Fatsa zu einer wirklichen Bedrohung der Mächtigen und der Militärs in der Türkei: Es bestand die Gefahr, daß das Modell zahlreiche NachahmerInnen finden würde und die traditionelle Herrschaftsstruktur in der gesamten Türkei in Frage gestellt würde. Jetzt wurde ein Angehöriger der faschistischen MHP als Bezirksgouverneur berufen, der als erste Maßnahme Idealistenvereine gründete (Straßenclubs der faschistischen Grauen Wölfe). Innerhalb von 4 Monaten wurden 300 Menschen getötet. Die „Strategie der Spannung“ wurde ständig verschärft. Schließlich wurde eine Militäroperation gegen Fatsa angekündigt. Als der Bürgermeister für diesen Fall Widerstand ankündigte, wurde dies zum Vorwand des Einmarsches in Fatsa genommen: Am 12. Juli 1980 wurde die Stadt vom Militär in Zusammenarbeit mit Schlägertrupps der Grauen Wölfe besetzt, 300 Menschen wurden festgenommen, sämtliche Lebensmittel in der Stadt zerstört. Der gewählte Bürgermeister wurde gefangengenommen und zu Tode gefoltert. Die BewohnerInnen leisteten keinen bewaffneten Widerstand, was angesichts des Vorgehens des Militärs wohl auch nur zu einem Blutbad unter der Bevölkerung geführt hätte. Der Einmarsch in Fatsa war ein Vorspiel für den wenige Monate später erfolgten Militärputsch in der Türkei. eine mangelnde Bereitschaft anderer linker Organisationen in der Türkei festgestellt, Fatsa zu unterstützen. Diese hatten wohl ein wenig Angst, bei einer direktdemokratischen Organisationsform den Einfluß über ihre Mitglieder zu verlieren. Auch einzelne antidemokratische Menschen in der Organisation Devrimçi Yol haben dem Experiment geschadet. Ein weiterer Fehler war es, Fatsa nicht stärker als Modell für die ganze Türkei auszuweiten.

Wenn Demokratie mehr sein soll, als die Möglichkeit eines Kreuzchens alle 4-5 Jahre und der Einschätzung „Die da oben machen doch sowieso was sie wollen“, dann können wir aus Fatsa jedenfalls eine Menge lernen.

Krabat

Die Veranstaltungsreihe ‚Land und Freiheit‘ im AZ Wuppertal, Wiesenstraße 11, wird mit einer Veranstaltung zur Selbstorganisierung im Gesundheitswesen in Chiapas und Essen und einer Zukunftswerkstatt fortgesetzt.