Kissel gegen tacheles vor dem Landgericht Wuppertal
Voraussichtlich März/April (genauer Termin stand bei Redaktionsschluß noch nicht fest) findet die Berufungsverhandlung gegen tacheles, sprich gegen Jürgen Müller, V.i.S.d.P der tacheles-Ausgabe Nr. 1 vom November 1995, wegen angeblichen Verstoßes gegen das Pressegesetz vor dem Landgericht Wuppertal statt. Dieser erneute Gerichtstermin markiert den vorläufigen Höhepunkt einer von der Staatsanwaltschaft Wuppertal angestrebten Kriminalisierung von bestimmten Meinungsäußerungen über Günther Kissel, wie sie in tacheles mehrfach abgedruckt wurden. Der Angeklagte habe „leichtfertig seine Verpflichtung verletzt“, das „Druckwerk von strafbarem Inhalt freizuhalten“ und hierbei „den Vorschriften über die Impressumspflicht zuwidergehandelt“, weil er den Artikel „Kissel versus Antifas“ in der von ihm herausgegebenen Zeitungsausgabe habe abdrucken lassen, in dem der Bauunternehmer als „aktiver rechtsextremistischer Drahtzieher, Auschwitzleugner und Volxverhetzer“ „beleidigt“ worden sei.
„In diesem Artikel heißt es auszugsweise:
‘Daß ein 80jähriger Greis unbelehrbar seine braune Scheiße verbreitet, ist schlimm, aber nicht verwunderlich. Skandalös ist, wenn eine heuchlerische Clique im Stadtrat einerseits bei jedem in Solingen gesprühten Hakenkreuz vor Empörung laut aufschreit und schärfstes Vorgehen gegen den Übeltäter fordert, andererseits einen aktiven rechtsextremistischen Drahtzieher, Volxverhetzer und Auschwitzleugner hofiert und vor ihm zu Kreuze kriecht.’
Diese Ausführungen erfüllen in nicht zu rechtfertigendem Wert den Tatbestand der Beleidigung des Günther Kissel.“ (Anklageschrift Oberstaatsanwalt Majorowski, Wuppertal, vom 14.05.1996, S. 2)
In erster Instanz wurde tacheles in Gestalt des Jürgen Müller von Richter Dittmann (Amtsgericht Solingen) schuldig gesprochen und zu 30 Tagessätzen verurteilt. Daraufhin gingen tacheles / J. Müller in Berufung.
Erste Instanz: Grundgesetz im Heimwerkerset
Interessant war die mündliche Begründung des Urteils in erster Instanz: Zwar würde er, der Richter, mit Kissel, der „sehr, sehr weit rechts steht“, „nicht gerne an einem Tisch sitzen“. Doch der Angeklagte habe die Menschenwürde Kissels „übersehen“. Dieser sei durch den Begriff „Volxverhetzer“ beleidigt worden, weil er den im Strafgesetzbuch definierten Tatbestand der Volksverhetzung tatsächlich nicht verwirklicht* habe. Ganz egal sei dabei, ob der Artikelschreiber bzw. der angeklagte Herausgeber mit dem Begriff „Volxverhetzung“ die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands gemeint oder diesen gekannt habe.
Was dabei herauskam, war höchst paradox: Die gesetzgeberische Einrichtung des Straftatbestands der „Volksverhetzung“, dazu gedacht, die Menschenwürde in von Rassismus bedrohten Bevölkerungsgruppen vor Haß, Gewalt und Diskriminierung zu schützen, diente in der Rechtsanwendung dazu, die „Ehre“ eines mutmaßlichen rechtsextremistischen Drahtziehers zu verteidigen, der angesichts erdrückender Fakten nicht vor dem Vorwurf in Schutz genommen werden konnte, ein Auschwitzleugner zu sein.
Dem Bundesverfassungsgericht hat Amtsrichter Dittmann damit einen prima Streich gespielt. Die höchsten deutschen Richter haben in vielerlei Entscheidungen, u.a. mit dem „Soldaten sind Mörder“-Urteil deutlich gemacht, daß die freie Meinungsäußerung und die Strafrechtsparagraphen verschiedene Paar Stiefel sind. Doch manch kleiner Richter tut sich groß damit, die höchstrichterliche Entscheidung im praktischen Gerichtsalltag kurzerhand und ungestraft zu korrigieren.
Daß sich der Amtsrichter hierbei nicht gerade mit juristischem Ruhm bekleckert hat, erhellt ein einfaches Beispiel: Ein Dieb steigt durch ein offenes Fenster und räumt eine Wohnung aus. Als er in der Presse als „Einbrecher“ bezeichnet wird, erstattet er Strafanzeige. Vor Gericht bekommt der Dieb Recht, da er den gesetzlichen Tatbestand des Einbruchs nicht verwirklicht habe, also beleidigt worden sei. Redakteure und Herausgeber werden schuldig gesprochen…
Zweite Instanz: Nur Mut!
Es ist meist recht teuer, sich das Recht um die Ohren schlagen zu lassen. Wer wenig Geld hat, hat Grund, klein beizugeben. Wir haben uns entschieden, nicht den Kopf einzuziehen, wenn Kissel seine Anwälte bellen läßt und die Gerichte drohend aufmarschieren. Einen guten Anwalt haben wir – einer der begreift, was in dieser nur scheinbar „kleinen“ Sache auf dem Spiel steht. Doch schön auf dem Teppich bleiben: Allein machen sie dich ein! Nichts geht ohne die Gemeinschaft derer, die gegen rechts sind und nicht schlafen. Es ist verdammt nötig, daß Kissel und Konsorten in ihre Schranken gewiesen werden; und dazu gehört, daß den Leuten, die sich was zu sagen trauen, nicht der Mund verboten wird. Wir rechnen daher auf weitere Unterstützung von diversen Organisationen und Einzelpersonen, ohne die wir aufgeschmissen und finanziell ganz schnell am Ende wären. Nicht zuletzt sind wir sicher, daß uns unsere Leserinnen und Leser nicht im Stich lassen, wenn tacheles von Kissel niedergemacht werden soll.
Da schaut!
Über das Treiben des rechten Baumillionärs als geistigen Brandstifter ist in der tacheles vorerst genug geschrieben worden. Ein paar Töne gibt’s aber noch zu verlieren über die „Volxverhetzung“, die Richter Dittmann von Kissel fernhalten wollte, indem er tacheles weismachen wollte, sich den Mund verbrannt zu haben. Sie wird wohl auch in der Berufungsverhandlung eine dicke Rolle spielen. Erinnern wir uns deshalb vorsorglich an ein Steckenpferd Kissels, die Verbreitung neudeutscher Gossenpoesie:
„… Die Fremden dachten: ‘Ei, sieh mal an!!’ und feixten schlau und verstohlen –
‘Das sehen wir uns vor Ort mal an. Wenn man soviel Geld verschenken kann, dann gibt’s da noch mehr zu holen!’
Sie kommen ‘first class’ per Jet und per Bahn, per Taxi zur deutschen Behörde.
Sie fangen ein großes Lamento an, was ‘böse Feinde’ ihnen getan! Und drohen sofort mit Beschwerde!
Sie strömen herein in gewaltiger Flut- wir zahlen und zahlen und zahlen.
Und langsam kommt unser Volk in Wut! Wir schuften und blechen – und sie leben gut. Sie lügen, betrügen und prahlen.
Und unsere hohen Herren in Bonn, bedenken sie, was sie geschworen?
Mitnichten, sie rügen in rauhem Ton und nehmen das eigene Volk in Fron. Der Fremdling bleibt ungeschoren…“
In dieser unverblümten Aufforderung zur Ausländerhatz fand Kissel soviel Kraft durch Freude, daß er den vollen Text an seine Belegschaft ‘zur Aufmunterung’ anläßlich der Jahreswende 91/92 verteilte (vgl. „Kisselfreunde versus Antifas“, abgedruckt in tacheles Nr. 1, Nov. 1995, S. 17).
Und mal wieder ist keiner seiner Arbeiter aufgestanden und hat gesagt: „Herr Kissel, ich verbitte mir das“ o.ä., sondern die feiernde Belegschaft hat’s mal wieder brav geschluckt. Wenn es nun aber von anderen Leuten nicht geschluckt wird, was dann? In dem Fall liegt nahe, nicht um den heißen Brei herumzureden, sondern die Dinge beim Namen zu nennen. Taugt hierfür nicht die Begriffsbildung „Volksverhetzung“? – , meint doch obendrein auch das geltende Gesetz:
„Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, daß er
1. zum Haß gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt,
2. zu Gewalt- und Willkürmaßnahmen gegen sie auffordert oder
3. sie beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet,
wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
(Strafgesetzbuch, § 130, Volksverhetzung)
Preisfrage: Ist die Verbreitung eines rassistischen Gedichts, dazu auch noch unter Ausnutzung der Stellung Abhängiger, etwa nur deshalb keine Volksverhetzung, weil die Arbeiter vor dem braunen Witzemacher kuschen?
Kissel, die Staatsanwaltschaft Wuppertal und das Amtsgericht Solingen, haben tacheles auf das Feld juristischen Erbsenzählens zitiert. Nach dem Wahnwitz Kissel ist dies das nächste Unding, ein echtes politisches Betäubungsmittel Marke Biedermann und die Auschwitzlüge. Jou, sagen wir, hier sind wir und erklären, daß der öffentliche Friede durch die Umtriebe des Herrn Kissel längst gestört ist – und zwar bereits seit Jahrzehnten, in denen es Zoff um die Hoffähigkeit seiner rechten Ergüsse gegeben hat. Und wenn sich die Richter blind stellen wollen, dann kann ihnen mit Blick zur Anklagebank dennoch kaum erspart werden festzustellen: Nicht überall wird gekuscht. Wir treten dafür ein, daß Kissels Umtriebe gebrandmarkt werden, basta! Und auch unser politisches Ziel ist glasklar und für jede/n einsichtig: Wir wollen kein Wiederaufblühen brauner Gewächse. Und wenn wir damit auf Zustimmung, nicht nur in bundesweiten Medien, sondern vor allem auch in weiten Teilen der Bevölkerung stoßen, um so besser – oder?
Redaktionelle Anmerkung:
Vorbeugen möchten wir einem Mißverständnis. Nur am Rande stellt sich die Frage, ob der „Antifa“, der den indizierten Artikel schrieb, womöglich in jugendlich-autonomem Überschwang handelte. Das über Jahrzehnte entstandene rechtsextreme Lebenswerk Günther Kissels als verwirrte Tat eines „80-jährigen Greises“ pointieren zu wollen (Amtsrichter Dittmann in seiner Urteilsbegründung: „Dem stimme ich völlig zu“), ist schon logisch unhaltbar – überdies sind derartige Formulierungen geeignet, Menschen wegen ihrer Generationszugehörigkeit herabzusetzen. Auch können wir nicht damit konform gehen, wenn der demokratisch gewählte Solinger Stadtrat als „Clique“ figuriert. Ob Heuchelei im Spiel ist oder nicht – die Begriffsbildung geht fehl.
Allerdings bleibt festzustellen, daß, wenn „Fremde“, die „schlau und verstohlen“ sind und „lügen, betrügen und prahlen“, nur solange „ungeschoren“ bleiben, wie das „Volk in Wut“ sich von der demokratisch gewählten Regierung „in Fron“ halten läßt, die Rassenideologie der Nazis in ihrem grundlegenden Gehalt reproduziert worden ist. Es wäre daher abwegig, einem Werturteil widersprechen zu wollen, das die propagandistische Weitergabe solchen Schrifttums als Verbreitung „brauner Scheiße“ bezeichnet. Ob man die Formulierung mag oder nicht, halten wir hier nicht für erstrangig. Immerhin schlug der Antifa in seinem Artikel eine Brücke von Kissels Aktivitäten bei der Verbreitung des oben zitierten Hetzpamphlets zu den Fast-Pogromen von Hoyerswerda und Rostock und zum Solinger Brandanschlag.
Nicht wegen der o.g. fehlgehenden Formulierungen also haben wir den Artikel abgedruckt, sondern weil in ihm anderweitige relevante Aussagen und Zitate zu der öffentlich heißdiskutierten Frage enthalten waren, ob die rechten Tiraden der hochgestellten öffentlichen Person Günther Kissels geduldet werden müßten oder nicht. Eine Zensur der uns zugesandten Schriftvorlage hat die tacheles-Redaktion dabei nicht vorgenommen.
Otto Mann
* Gegen Kissel lief bereits einmal ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung. Es wurde nur deshalb eingestellt, weil die zur Debatte stehende Straftat nach Ansicht der Wuppertaler Staatsanwaltschaft verjährt war.