Staatliche Drogenpolitik und freie Drogenhilfe

Eine Bilanz nach 20 Jahren

von Floyd Schlemil

Die erste „Drogenwelle”

Mit 60.000 bezifferte NRWs Kultusminister Girgensohn die sog. Hasch-Invaliden in der BRD: Jugendliche zumeist, die vor 2 oder 3 Jahren ihren ersten Joint drehten, und die mittlerweile in einem hohen Maße drogenabhängig wurden, so daß es bei ihnen zu keiner abgeschlossenen Schul- und Berufsausbildung mehr kommt.”
Ein Zitat aus einer Tageszeitung von ,71 , das heute unfreiwillig komisch wirkt. Doch damals reagierte die bürgerliche Gesellschaft alarmiert und erschreckt auf eine Jugend, die nicht nur durch Drogen auffällig geworden war. Die Studentlnnenbewegung hatte gezeigt, daß die nachwachsende Generation nicht mehr ohne weiteres bereit war, am „Wiederaufbau” und am Verdrängungsprozeß nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg teilzunehmen. Drogen wurden zu einem Synonym für Leistungsverweigerung, sexuelle Freizügigkeit, Flower Power, Gammlerlnnen und Hippies. Um die Jugend vor den Schattenseiten dieser reizvollen Subkultur zu warnen, wurden die Gefahren insbesondere von Haschisch und Marihuana dramatisch übertrieben. Die Chance, mit den Jugendlichen über die Drogen zu reden, wurde verpaßt.
Ende ,71 trat ein neues Betäubungsmittelgesetz (BtmG) in Kraft, mit dem die Höchststrafen von 3 auf 10 Jahre heraufgesetzt, neue Straftatbestände wie Erwerb und Handel eingeführt und weitere Substanzen als Betäubungsmittel definiert wurden.
Die repressive gesellschaftliche Reaktion auf den Konsum von Haschisch, LSD etc. und das Auseinanderfallen der Protestbewegung in viele Splittergruppen sorgte jetzt für die Abspaltung und Entwicklung einer Drogenszene die sich immer stärker von anderen jugendlichen Subkulturen trennte. Hier sammelten sich auch Jugendliche aus unterprivilegierten Verhältnissen (z.B. ehemalige Heimkinder)‘ die durch die Protestbewegung zwar angesprochen, aber nicht aufgefangen worden waren. Damit war ein Kundlnnenkreis geschaffen, der ideal vorbereitet war für das 1972 einsetzende Heroingeschäft in der Bundesrepublik. Die Dealer konnten kommen.
In der BRD begann sich die Situation der Drogenkonsumentlnnen zu verschärfen. Heroin wurde von Beginn an durch professionell organisierte Kartelle vertrieben, welche die jetzt rasch steigenden Preise diktierten. In der Drogenszene begann der Kampf ums Überleben. Die Zahl der Drogentoten stieg von 1972 (104) bis 1979 (623) um das Sechsfache. Im selben Zeitraum nahm die Zahl polizeibekannter Konsumentlnnen harter Drogen Jahr für Jahr um etwa 10.000 zu.
Die Reaktion des Staates war einmal mehr hilflos repressiv. 1982 erfolgte die zweite „Reform” des Betäubungsmittelgesetzes: Eine erneute Verschärfung mit höheren Mindest- und Höchststrafen und der Einführung weiterer Straftatbestände.
Mit der zweiten Reform des Betäubungsmittelgesetzes wurden auch therapeutische Maßnahmen als Strafmaßnahmen mit aufgenommen: „Therapie statt Strafe”, war der Slogan, unter dem die Reform politisch verkauft wurde. Die Drogentherapieeinrichtungen die zuerst als Alternativen zu Psychiatrie und Knast entstanden waren, sollten in den staatlichen Sanktionskatalog mit einbezogen werden.
Vordergründig schien die staatliche Strategie zu greifen. Die offenen Drogenszenen wurden vielerorts zerschlagen, die Konsumentlnnen in die Privatsphäre abgedrängt. Für eine kurze Phase Anfang der achtziger Jahre ging die Zahl erstauffälliger Konsumentlnnen und auch der Drogentoten zurück. Ganz andere Tendenzen aber waren zum selben Zeitpunkt schon in geheimen Studien der amerikanischen Regierung zu erkennen: Die Drogenkartelle, so wurde dort festgestellt, hatten sich zur wirtschaftlichen Weltmacht entwickelt, die Umsatz und Profitraten ständig steigerten. Allein in diesem Jahrzehnt ist wahrscheinlich ein Kapitalstrom an Narko-Dollars von mehr als 2,5 Billionen US-Dollar geflossen; eine Summe, die doppelt so hoch ist wie die heutige Gesamtverschuldung der „Dritten Welt”. Über die Jahre sind in Dutzenden größter Geldhäuser weltweit hunderte von Milliarden US-Dollar verwahrt, bewegt und gewaschen worden, in den legalen Wirtschaftskreislauf eingeflossen und in ungezählte nationale und internationale Geschäfte investiert worden. Gewinne die von den Polizeien der Welt nicht mehr ,abgeschöpft‘ werden können.
Anders als Alkohol- und Medikamentenkonsum der Bevölkerung wurde der Konsum illegaler Drogen in der Bundesrepublik von Anfang an in Verknüpfung mit bestimmten Weltanschauungen diskutiert. Die konservativen gesellschaftlichen Kräfte hatten mit der Ablehnung der neuen, illegalen Drogen vor allem einer Jugendkultur den Kampf angesagt, die sich der herrschenden Wohlstands- und Leistungsideologie verweigerte.

Die gut gemeinte Drogenarbeit

Die frühen Initiatoren einer nicht staatlichen Drogenarbeit interpretierten den Drogenkonsum im Prinzip ganz ähnlich Drogensucht wurde als berechtigte Flucht aus unerträglichen gesellschaftlichen Verhältnissen angesehen. Als Therapieziel für Drogenabhängige wurde formuliert, den Kampf gegen die Verhältnisse aufzunehmen. Praktisch alle Therapiekonzepte kamen aus der „linken Ecke  bedienten sich z.T. der rigiden pädagogisch therapeutischen Ausrichtung sozialistischer Erziehungsprojekte (z.B. Makarenko) und spiegelten in den folgenden Jahren ziemlich genau die Entwicklung bzw. Zersplitterung der StudentInnenbewegung in verschiedene weltanschauliche Grüppchen wider. Die Therapieeinrichtungen betonten zwar die Freiwilligkeit ihres Angebotes, doch wurde dabei übersehen bzw. verleugnet, daß die Abhängigen oft gar keine andere Chance zum Überleben hatten, als sich wohl oder übel immer wieder auf Langzeittherapien einzulassen. Das Drogenhilfesystem bot zu den zunehmend rigide strukturierten Langzeittherapien keinerlei Alternativen an. Die Drogenberatungsstellen wurden zu Therapie Vermittlungsstellen. Die vorhandenen Therapieangebote wurden zur Legitimation für die permanente Verschärfung der Lebensverhältnisse von Junkies: Wer wollte, konnte ja aussteigen, hieß es, und eigentlich müsse es Abhängigen auch erst richtig schlechtgehen, damit sie dazu bereit wären. Zwar protestierte ein Teil der Drogenberaterlnnen und Therapeutlnnen massiv dagegen, unter dem Motto „Therapie statt Strafe” zum Vollzugshelfer der Drogen-Staatsanwaltschaften gemacht zu werden. Dies führte vor allem zum Ausschluß kritischer Einrichtungen aus dem System der Zuweisung von KlientInnen über die Justiz. Auch von den links-alternativen Drogenprojekten und -arbeiterlnnen wurde jedoch viel zu selten die Frage aufgeworfen, ob die Gesellschaft nicht grundsätzlich anders mit Drogenabhängigen umgehen könnte; ob es richtig war, Ausgrenzung und Verelendung als Voraussetzungen für therapeutische Hilfen zu akzeptieren. Tatsächlich wurde das Drogenhilfesystem immer stärker zum Hilfsangebot ausschließlich für Heroinabhängige, die Probleme mit den Strafverfolgungsbehörden hatten. Das schloß den Teil der Abhängigen aus, die noch relativ integriert lebten und weiterhin versuchten, den Anforderungen von Beruf, Familie o.ä. gerecht zu werden.

Die zweite Marktoffensive

Die Zufriedenheit staatlicher Drogenbekämpferlnnen um die Mitte der achtziger Jahre sollte nicht lange halten. Ende der achtziger Jahre wurde auch auf der Seite der Konsumentlnnen deutlich, daß der Drogenmarkt in ungeahnter Geschwindigkeit expandierte.
Unter den zunehmenden Drogentoten sind immer mehr der Polizei nicht als Konsumentlnnen bekannte Personen. Der Konsum von Drogen, auch illegalen Drogen, ist inzwischen zu einer Alltagserscheinung von Jugendlichen geworden. Die Kundschaft der Heroinhändlerlnnen findet sich nicht mehr in einer fest umrissenen Gruppe – der sogenannten Drogenszene – sondern in allen gesellschaftlichen Kreisen. Der Handel und die Anwerbung neuer Kundinnen verbreitet sich vor allem in den Zentren der „neuen Armut”, in Vorstadtsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus, wo Jugendliche ohne
große Zukunftsaussichten leben. Es ist nicht der ominöse „Dealer auf dem Schulhof”, der den Jugendlichen ihre ersten Erfahrungen vermittelt, sondern es sind oft gute Bekannte aus der Nachbarschaft, die bereits ins Heromgeschäft eingestiegen sind. Der Handel mit Heroin ist zu einer Verdienstmöglichkeit geworden, wie sie unterpriviligierten Jugendlichen ansonsten kaum offensteht. Die Droge ist nicht nur reizvoll weil sie verboten ist, sie hat eine zusatzliche Attraktivität als Ware in einem lukrativen Geschäft, in das scheinbar jedeR einsteigen kann.

Neue Ansätze in der Drogenhilfe

In die Drogenarbeit ist Ende der achtziger Jahre endlich Bewegung gekommen. Drogenberatung und Therapie erreichten zu diesem Zeitpunkt Immer weniger Abhängige; das Gros der Junkies blieb seinem Schicksal selbst überlassen. Man begann angesichts der neuen Bedrohung Drogenabhängiger durch AIDS, öffentlich über neue Formen der Drogenarbeit nachzudenken NiedrigschweIlige Anlaufstellen, Spritzentauschangebote (ein Bericht über den Spritzentauschbus in Solingen erscheint in der nächsten tacheles) und Methadonprogramme wurden etabliert. Sogar der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau sprach sich öffentlich für eine legalisierte Abgabe von Heroin aus, und der Senat stellte eine dementsprechende Bundesratsinitiative vor.
Noch immer ist Substitution (kontrollierte Abgabe von Polamidon/Methadon an Abhängige) ein Angebot nur für Einzelne, ein Privileg für diejenigen, die nachweisen können, daß sie besonders „schlecht dran sind” (AIDS, Gelbsucht, Schwangerschaft usw.) Darüber hinaus wird von ihnen erwartet daß sie eine Motivation zeigen, aus der Drogenszene auszusteigen und sich psychosozial betreuen bzw., kontrollieren zu lassen. Der schlichte Wunsch nicht elendig zugrunde zu gehen, muß von ihnen zur Therapie- bzw Ausstiegsmotivation überhöht werden. Dies führt bei vielen substituierten Personen dazu, daß sie heimlich weiter Heroin konsumieren, was für die meisten früher oder später zu einem Rausschmiß aus dem Programm führt. Den Junkies wäre vermutlich eher damit geholfen, wenn in der BRD eine Methadonvergabe praktiziert würde, wie z.B. in den Niederlanden, wo jeder Abhängige die Möglichkeit hat, ohne jede weitere Vorbedingung seine Grundversorgung mit Methadon bzw. Polamidon zu bekommen. Methadon hat gegenüber Heroin den Vorteil einer längeren Halbwertzeit, d.h. es wirkt länger und muß deshalb nur einmal täglich genommen werden, um vor einem Entzug zu schützen. Damit einher geht der Nachteil, daß Methadon-Entzüge wesentlich langwieriger und unangenehmer verlaufen als eine Herom-Entgiftung.
Darüberhinaus sind heute keine Unterschiede der Wirkungsweise und der Schädlichkeit zwischen Heroin und Methadon bekannt, welche die Entscheidung begründen könnten, das eine zu verbieten, das andere an Süchtige zu verschreiben. Da man aber weiß, daß Heroin auf dem Markt ist und auch weiß, daß nicht alle Süchtigen bereit sind, auf Methadon „umzusteigen” und daß es dafür auch keine medizinische Begründung gibt, ist die Frage, warum man die Heroinkonsumentlnnen weiter dem Schwarzmarkt überlassen sollte.

Freigabe von Heroin – Zwei Modelle

Die legale Vergabe von Heroin ist in verschiedenen Variationen vorstellbar, die im folgenden kurz vorgestellt werden.
1. Heroin als Medikament
Drogenabhängige sollen Heroin ausschließlich nach ärztlicher Verschreibung, unter ärztlicher Kontrolle und auch nur in dazu einzurichtenden staatlichen Drogenambulanzen einnehmen. Der Gebrauch von Heroin als Droge würde mit diesem Modell in ähnlicher Weise toleriert, wie es heute z.B. mit Psychopharmaka, Schmerzmitteln etc. der Fall ist. Die Produktion von Heroin würde in die Hände der Pharmaindustrie gelegt. Der große Kriminalisierungsdruck wäre von den Konsumentlnnen genommen.
Für die Drogenkartelle würde es langfristig uninteressant, sich immer mehr Kundinnen und Kunden zu schaffen, weil diese schon nach kurzer Zeit in die staatlichen Vergabestellen „abwandern” würden. Drogenarbeit würde sich darauf konzentrieren, Süchtige zu unterstützen, die ihre Abhängigkeit beenden wollen. Heroin würde behandelt wie alle anderen psychisch wirksamen Substanzen, die bei uns auf Rezept erhältlich sind. Das wäre auch der Nachteil dieses Modells: Die Tatsache, daß Heroin als Rauschmittel verwendet wird, bliebe tabuisiert.
2. Heroin als „Genußmittel”
Noch weitergehender als das 1. Modell ist die Vorstellung, Heroin als Rausch- bzw. Genußmittel freizugeben. Dies soll nicht bedeuten, daß Heroin wie Tabak oder Alkohol überall im Supermarkt zu kaufen wäre. Vielmehr liegt diesem Modell die Vorstellung zu Grunde, Heroin durch ein staatliches Monopol in dafür einzurichtenden Verkaufsstellen, in denen auch Beratung und Informationen für die Konsumentlnnen angeboten wird, abzugeben. Diese Beratungsstellen wären nicht federführend durch ÄrztInnen zu besetzen, sondern durch Menschen z. B. ehemalige Junkies, SozialarbeiterInnen, die über die Wirkungen und Nebenwirkungen der Droge informieren und Rat und Hilfe bei Suchtproblemen anbieten können. Möglicherweise müßten riskante Konsumformen (Spritzen) auch in diesen Anlaufstellen selbst stattfinden. Diese zwei Modelle zur Legalisierung von Heroin werfen viele Fragen und Problemstellungen auf, die aber nur durch eine offene und mutige Diskussion geklärt werden können. Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, wie lange es noch dauern wird, bis der beginnenden Diskussion über eine Legalisierung von Heroin Taten folgen werden. Die Diskussion sollte den Staat und die Gesellschaft keineswegs davon abhalten, das Notwendige und Mögliche sofort zu tun. Dazu gehört es, Methadon und andere Substitutionsmittel für Heroinabhängigen zugänglich zu machen und allen denjenigen, die sie wollen und brauchen weitere soziale und therapeutische Hilfen anzubieten.
Der Artikel bezieht sich großten Teils auf eine Broschüre der Palette e.V., einer Einrichtung, die seit 1987 mit substituierten Heroinkonsumentlnnen arbeitet! Wer die Broschüre möchte, kann die Bezugsadresse über die tacheles erfragen.