Podiumsdiskussion „Ittertal – was machen wir aus Dir?“ am 23.1.2017

„Gerade an die Gewerbebrachen müssen Sie ran!“

Unter der Leitung von Dr. Cornelius Arendt diskutierten im Kunstmuseum Solingen Vertreter von Wirtschaft, Land­wirtschaft und Naturschutz mit Politikern von CDU, SPD, B90/Grüne und FDP/Freie Wähler zur Frage: „Ittertal – was machen wir aus Dir?“. Eingeladen hatte die Bür­gerinitiative „Rettet das Ittertal“ (BIRDI).

„Seit vier Jahren diskutieren wir jetzt mit der lokalen Politik über die Zukunft des Ittertales“, erklärte einführend BIRDI-Mit­glied Christian Robbin. Nun sei es an der Zeit, dies auf Regionalratsebene zu bringen. Denn dort wird der Landesentwicklungsplan NRW 2025 aufgestellt. In dessen Rahmen steht der 2. Entwurf des Regional­planes für den Regierungsbezirk Düsseldorf (RPD), zu dem Solingen gehört, in der öffentlichen Diskussion. Der RPD bestimmt die Ordnung des Raumes, legt fest welche Flächen Solingen verbauen darf. „Im 2. korrigierten Entwurf des RPD steht nun die Forderung, regionale Grünzüge zu schützen, zu entwickeln und zu verbessern“, erklärte Robbin und zeigte anhand von Karten aus dem überarbeiteten RPD, dass das Ittertal hier als regionaler Biotop-Verbund besonderer Bedeutung (Stufe 2) eingetragen ist. Zudem ist es gekennzeichnet als „regionaler Grün­zug“ mit den Funktionen:  „Siedlungsglied­erung, Naherholung, Biotopvernetzung“. „Das klingt erst mal gut“, lobte Robbin, doch sehe er aktuell nur Aktivitäten, die diese Funktionen bedrohen. Anhand von Karten zeigte er dann, dass das Ittertal eins von wenigen Bachtälern ist, das eine noch bestehende Biotopvernetzung von der Wupper bis zum Rhein aufweist und dass allein in den letzten 20 Jahren in Solingen circa 100 ha landwirtschaftliche Flächen zubetoniert wurden.
Aus der daraus folgenden lebhaften Diskussion, zu der auch viele der mindestens 120 Zuschauer qualifiziert beitrugen, hier eine protokollarische Zusammenfassung, redaktionell zum Teil in Klammern ergänzt und in eine für diesen Artikel sinnvolle Ordnung gebracht:

Johannes Paas (Kreisbauernschaft):

Pro Tag werden in NRW aktuell zehn Hektar Land versiegelt, pro Woche gibt ein landwirtschaftlicher Betrieb auf und dies angesichts des neuen Trends, dass die Menschen regional und bio einkaufen wollen. Wie soll das gehen? Man sagt, die Landwirte seien schuld, dass Artenvielfalt verloren geht und dass die Bienen sterben. Wenn die Tiere kein natürliches Rückzugsgebiet mehr haben, dann sterben sie. Und auch die Menschen brauchen Freiraum. Wir kämpfen deshalb dafür, dass man sinnvoll mit dem Land umgeht. Ja, Städte wachsen und Wirtschaft braucht Fläche. Wir müssen das intelligent machen und Gewerbebrachen reaktivieren, denn auch die Menschen wollen Freiraum. Flächen erhalten ist Verbraucherschutz.

Manfred Krause (Grüne Regionalratsfrak­tion):

Seit Aufstellung des Regionalplanes haben wir uns dafür stark gemacht, Piepers­berg-West, Fürkeltrath, Keusenhof und Bu­sch­feld nicht als Gewerbegebiete auszuweisen. Wir haben uns auch dafür eingesetzt, dass die Summenwirkung der verschiedenen geplanten Gewerbegebiete betrachtet wird. In den 90er Jahren gab es dazu schon mal Gutachten. Damals war das Monhofer Feld noch dabei. Damals wurden die jetzigen Flächen Fürkeltrath und Piepersberg abgelehnt. Aber es entsteht immer neu Druck. Bisherige Erkenntnisse werden über den Hau­fen geworfen. Und trotz Solinger Ratsbe­schluss vom 22.9.2016, das Buschfeld als Gewerbegebiet aus dem Regionalplan wieder herauszunehmen, ist dies bislang nicht passiert. Dabei ist Solingen überversorgt, was Gewerbegebiete angeht. Erst kürzlich ist mit Grossmann eine weitere Gewerbebrache dazu gekommen.

Ulrich G. Müller (FDP und Freie Wähler):

Keusenhof haben wir in der Planung drin, aber wir wissen seit 30 Jahren, das kann man gar nicht entwickeln. Wir wollen das Ittertal ja nicht mit dem Bagger zumachen. 10% mehr Versiegelung im Ittertal bedeutet einen Temperaturanstieg von nur 0,08%. In den Gutachten steht, man kann Piepersberg West und Fürkeltrath II entwickeln mit den entsprechenden Auflagen und das sollten wir tun.

Friederike Sinowenka (SPD im Regional­rat):

Es gibt einen Ratsbeschluss, dass das Buschfeld herausgenommen wird. Wir Frak­tionen müssen dafür sorgen dass es auch aus dem Regionalplan herausgenommen wird. Ich denke, davon können wir die Fraktionen im Regionalrat auch überzeugen.
Fürkeltrath II und Piepersberg aber sollen entwickelt werden. /…/ Wir haben überall diese hochwertigen Böden und der Druck der Kommunen ist immens. Wir planen das, legen Grenzen fest, aber gebaut wird von der Stadt und in Fürkeltrath I ist seit 20 Jahren nichts gebaut worden. Ich möchte Ihnen ein wenig die Angst nehmen, dass morgen die Bagger anrollen.
(Vier Tage nach dieser Aussage, meldet die Solinger Morgenpost am 27.1.17, dass die Wirtschaftsförderung mit zwei einheimischen Firmen über einen Flächenverkauf in Fürkeltrath I verhandelt. Dabei geht es um drei Viertel des insgesamt 40.000 qm großen Gebietes auf halbem Weg von der Ausfahrt Haan-Ost ins historische Gräfrath.)

Kai Sturmfels (Solinger Ratsmitglied der CDU, von der Regionalratsfraktion abgeordnet):

Solingen hat 2014 einen gewaltigen Gewerbesteuereinbruch erlitten. Brachen sind nicht immer passgenau mit dem, was gebraucht wird und oft gibt es auch Nachbar­schafts­konflikte. Die Topografie Solingens macht es schwierig, Dinge zu entwickeln. Gewerbebrachen aufzubereiten ist teuer und oft nicht passend. Wir haben einen Bedarf von 4-5 ha pro Jahr, die wir der Wirtschaft anbieten wollen.
Ein verärgerter Zuschauer im unruhig werdenden Saal: Das ist doch gequirlte Scheiße! Gerade an die Gewerbe­brachen müssen Sie ran!

Henner Pasch (Solinger Unternehmer, Ver­tre­ter der Wirtschaftsjunioren):

Die Ent­wick­lung meiner Heimatstadt ist mir wichtig, dazu gehören auch die weichen Standortfak­toren. Aber die Verfügbarkeit von Fläche ist für einen Unternehmer das wichtigste. Kein Unternehmer hat Probleme mit einer Brachfläche. Wenn wir geeignete Flächen finden und diese passend entwickeln können, dann wird niemand was ins Grüne bauen.

Dr. Helmut Nieder (BIRDI):

Das Ittertal bedeutet Lebensqualität für die Menschen und das kann man nicht pekunär definieren. Aber damit haben Sie ein Lebensumfeld, mit dem Sie Menschen anziehen. codecentric (internationaler Software-Entwickler mit einem Standort auch in Solingen) generiert das 50fache von dem, was Balkenhol (Solinger Wirt­schaftsförderung) errechnet. Es ist Unsinn, im Produktionshallendenken verhaftet zu bleiben. Die Stadt sollte eher darüber nachdenken: Wie kriegen wir hier Menschen hin, die mit dem Kopf arbeiten? Dann bleibt auch Platz für die Landwirtschaft.

Ulrich G. Müller (FDP):

Nur IT, das möchte ich auch, da muss man erst mal Firmen finden. Wir haben in der Republik in den letzten Jahren eine Gegenkultur. Wenn wir Rasspe entwickeln, möchte ich wissen, wer dann wie­der dagegen ist.  Da müssen wir uns nicht wundern, wenn dann keiner herkommen will.

Friederike Sinowenka (SPD):

Vor 24 Jah­ren, als ich anfing, Politik zu machen, sprach mal einer von Schlafstadt. Er wäre beinahe dafür aus der Stadt gejagt worden. Wir haben ein Pfund hier, wir haben viele Grünflächen. All diese Dinge müssen finanziert werden, zum größten Teil aus Gewerbesteuern. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen Arbeit finden. Wir müssen die Pendlerströme reduzieren. Dafür müssen sich die hier ansässigen Firmen auch entwickeln können. Das funktioniert leider  nicht in Brachen. Viele sind in Privatbesitz, die Leute geben das nicht ab. Logistik-Unternehmen, die riesige Flächen verbrauchen, wird es in Solingen nicht mehr geben. Es sind genug abgewandert. Wenn Sie die riesigen Hallen von Amazon an der holländischen Grenze sehen, wird Ihnen übel. Aber es tut mir leid, ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt kein Gewerbegebiet mehr entstehen wird.

Manfred Krause (Grüne):

Schlaf-Stadt ist ein schlecht besetztes Wort. Die Menschen wohnen hier, das ist mehr als schlafen. Sie brauchen Naherholung, kulturelle Angebote, wenig Lärm, ein gesundes Wohnumfeld. Das ist ein Pfund, was wir haben. Wir können nicht auf Dauer jedes Jahr 4 ha verbrauchen, der Boden ist endlich. Die Wirtschaft muss sich umstricken. Und Schüren (für dessen Brötchen das Getreide in Fürkeltrath II wächst), ist auch eine zu unterstützende Wirtschaft. Und Firmen wie codecentric wollen nicht ins Ittertal, codecentric wollte direkt an den IC-Haltepunkt in Solingen-Ohligs.

Dr. Cornelius Arendt (Moderation):

Darf eine einzelne Stadt moralisch betrachtet allein darüber entscheiden, was in einer überregionalen Achse geschieht, in der sich 40.000 Menschen erholen? Publikum applaudiert.

Sibylle Arians (Die Linke):

Je mehr landwirtschaftliche Flächen wir rausnehmen, desto größer wird der Druck auf die verbleibenden Flächen. Man sieht es an der Nitratbe­lastung. Es gibt Gegenden, da kann man das Grundwasser nicht mehr trinken. Wir brauchen einen grundsätzlichen sozialen und ökologischen Umbau. Wir ernähren uns auf Kosten der dritten Welt und unseres Klimas. Wir müssen zu regionaler Ernährung zurückkehren. Und wir müssen überlegen, was man auf bundespolitischer Ebene ändern kann, damit die kommunalen Einnahmen nicht nur auf Gewerbe basieren.

Christian Robbin (BIRDI):

Ich vermisse eine strategische Entwicklung von Solingen. Man könnte doch mal damit anfangen zu sagen: wir haben keine Naturflächen mehr zu vergeben, wir entwickeln, was wir haben. Damit hätten wir erst mal genug zu tun. Warum wird nicht an unsere nachfolgenden Generationen gedacht? Was ist, wenn alle Flächen verbraucht sind?

Kai Sturmfels (CDU):

Wir haben die Bra­chen kartographiert. Sehr gern hätten wir, dass der Tertiärbereich wächst, aber das ist eine Entwicklung, die geht nicht von heute auf morgen. Wir sind ein traditionell produzierender Standort. Es kann nicht jeder mit dem Kopf arbeiten. Wir müssen jedem Menschen in Solingen die Möglichkeit geben zu arbeiten.

Landwirt Karsten Broker:

Ich führe seit 17 Generationen ein mittelständiges Unterneh­men mit mehreren Mitarbeitern, die mit Kopf und Körper arbeiten und das durchgehend im selben Gewerk, das müssen Sie mir erst mal vormachen.

Henner Pasch (Wirtschaftsjunioren):

Ich vertrete Sie mit!

Brocker:

Schön, dass Sie das sagen, ist mir bisher noch nicht aufgefallen.

Pasch:

Sie brauchen Flächen, auf denen Sie Ihren Erfolg fortschreiben, aber wir brauchen auch Flächen.

Broker: Die Flächen, die wir hinterlassen sind so gut, dass sie händeringend gesucht wer­den. Die Flächen, die die Industrie hinterlässt, sind so teuer aufzuarbeiten, dass sie keiner mehr anpacken will. Merken Sie das Prob­lem! Wie kommen wir zusammen, Herr Pasch? Wir sind an einem Punkt angekommen, wo der Bedarf an landwirtschaftlicher Fläche nicht nur hier in Solingen deutlich untergedeckt ist. Unsere Verbände machen sich deshalb zu dem Thema, wie man intelligent mit Flächen umgeht, deutlich mehr Gedan­ken, denn Nahrungs- und Futtermittel können wir nur auf sauberen Flächen produzieren. Flächen, die zubetoniert werden, sind für die Landwirtschaft für immer verloren. Ein Gewerbegebiet aber kann problemlos auf eine Brache.

Dr. Helmut Nieder (BIRDI):

Diese Böden ha­ben sich in Jahrmillionen entwickelt, sie sind ein Kulturgut. Auf diesen Böden wirtschaften Menschen. Bitte denken Sie darüber nach, wie Sie Ihre Abwägungsprozesse in die Zukunft projizieren! Jede Fläche, die Sie heute versiegeln, ist morgen eine Altlast.

Johannes Paas (Kreisbauernschaft):

In me­i­ner Heimatstadt Ratingen nehmen wir Geld in die Hand und bringen die Brachflächen wieder in Ordnung.

Ulrich G. Müller (FDP):

Wir können nur so viel Geld in die Hand nehmen, wie wir bekommen.

Manfred Krause (Grüne):

Altlasten müssen beseitigt werden, dazu gibt es einen Altlasten­fond. Zahlreiche Flächen in Solingen wurden schon mit Landesgeldern saniert.

Dr. Cornelius Arendt (Moderation):

Herr Sturm­fels. Sie haben in der Aktuellen Stunde gesagt, dass Sie sich dafür einsetzen wollen, dass nur die Flächen im Eigentum der Wirt­schaftsförderung entwickelt werden. Sie haben gesagt: „Wir werden die Baufläche Piep­ers­berg-West deutlich reduzieren.“ Wieso ist das im Regionalplan nicht sichtbar? Der neu veröffentlichte Bebauungsplan hat die Fläche sogar vergrößert.

Kai Sturmfels (CDU):

Ich stehe dazu, wir werden die Fläche deutlich reduzieren.
(Zu Buschfeld:) Wir Fraktionen sollten uns dafür einsetzen, dass Buschfeld als Gewerbe­gebiet im Regionalplan rausgenommen wird. Wenn wir das aus Überzeugung sagen, dann erwarte ich auch von den Vertretern im Regionalrat, dass sie unser Votum akzeptieren. Die Diskussionslage ist da auch eindeutig: Buschfeld ist für uns kein Thema mehr.

Moritz Schulze, Biologische Stationen in Solingen und in Düsseldorf/Mettmann:

Es gibt bei den Gewerbegebieten Fürkeltrath II und Piepersberg-West gravierende artenschutzrechtliche Probleme. Mehrere Arten – wie Feldlerchen und Rauchschwalben – die von der landwirtschaftlichen Nutzung abhängig sind, leben hier. Sie würden ihre Lebens­räume verlieren. Ein funktionaler Ausgleich ist nach Ansicht der Naturschutzverbände ka­um machbar. Die Naturschutzverbände werden von daher die vorgelegten Gutachten kritisch überprüfen und behalten sich die Ein­leitung von rechtlichen Schritten vor.

Renate Bernhard