Buchtip: Boxcar Bertha – Eine Autobiographie

Hobos waren eine Art Vorläufer der Punks im Amerika Anfang dieses Jahrhunderts. Ausgestoßene aus vielerlei Gründen, reisten sie auf Güterwagen quer durch den Kontinent und bildeten eine schillernde Subkultur. Über 13 000 der zeitweise fast 400 000 Hobos waren Frauen, wie Boxcar Bertha schätzt, und sie behaupteten ihren Platz in dieser Welt mit einem Selbstvertrauen, das vor dem Hintergrund des damals vorherrschenden Frauenbildes umso beeindruckender ist.

Dr. Ben L. Reitman, selbst Hobo und langjähriger Lebensgefährte der Anarchistin Emma Goldmann, hat die Lebensgeschichte der Bertha Thompson niedergeschrieben und 1937 erstmals veröffentlicht.

“Hobos, Prostituierte, Wobblies, die Mitglieder der I.W.W., Vorkämpfer der freien Liebe, Kommunisten, Revolutionäre, Bohemiens – das war die Unterwelt unserer Gesellschaft, die zusammenhielt wie Pech und Schwefel, die Welt der lautstarken Proteste und der verspotteten Konventionen, der Kriminellen und der Protestmärsche, der Stadtstreicher und der Redner an den Straßenecken, der Arbeitsscheuen, der Bahnpolizisten und ihrer Schuppen, der Nächte auf den Dächern der Güterwagen unter sternübersätem Himmel, der Nächte in Missionen und Gefängnissen, der Helden und Unruhestifter, der menschlichen Wracks, die betrunken in den Gassen lagen, der Ritter der Güterzüge, immer mit einem Fuß im Jenseits.”

In dieser ‘paradiesischen’ Umgebung wächst Bertha auf und geht ihren Weg mit einer nie versiegenden Neugier und einem unstillbaren Lebens- und Freiheitsdrang, ohne falsche Bescheidenheit. Sie gibt einen Einblick in eine Welt, die in keinem Schulbuch beschrieben wird, und vermittelt eine Ahnung davon, warum diese Epoche in der offiziellen Geschichtsschreibung der USA nicht vorkommt.

Beschrieben wird eine Zeit des Umbruchs; eine “Welt voller Vitalität und Lebensfreude”, “einem Leben in Elend und doch in Würde”, ungetrübt von dem, was kommen sollte. Berthas Leben ist nicht ohne Widersprüche, aber selbst ihrer Arbeit als Prostituierte geht sie ohne Heuchelei und mit dem festen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft frei von Unterdrückung nach. Sie studiert das Leben, und kostet es in jeder seiner Facetten aus.

Hobos waren keine zwielichtigen Gestalten, die sich aus freiem Entschluß durchs Leben schnorrten und gar nicht anderes wollten. Sie waren sich ihrer Position als Bodensatz in einem brutalem Kapitalismus, der die Menschen nach ihrer Verwertbarkeit sortierte, durchaus bewußt. ”Drei Viertel der Landstreicher beiderlei Geschlechts gingen ursprünglich auf die Reise, weil sie Arbeit suchten”, wie Boxcar Bertha im Auftrag eines von der Regierung angestellten Statistikers herausfindet, und selbst dieser sagt bei Durchsicht der zusammengestellten Daten:

“Zum Teufel mit einer solchen Gesellschaft!” […] “Wir müssen sie irgendwie zerstören, wenn wir Diebe, Gauner, Kriecher und Sklaven sein müssen, nur um leben zu können! Wer kann da ruhig und friedlich bleiben und sich damit zufriedengeben, seine Stimme nur bei den Wahlen abzugeben?”

Das Buch beleuchtet eine unbekannte Seite der Geschichte der USA, und erinnert unangenehm daran, wie andersalles hätte verlaufen können. Damals herrschte in großen Teilen der Bevölkerung eine revolutionäre Grundstimmung, und eine gleichzeitige Angst vor diesem Potential (”Red Scare”), die erst in den 50ern unter McCarthy wieder erreicht wurde. Diese Menschen besaßen einen Freiheitsdrang und unerschütterlichen Glauben an eine selbstbestimmtes Leben, dessen Mangel heute umso schmerzhafter ist.

Punk Anderson

Boxcar Bertha – Eine Autobiographie.
aufgezeichnet von Dr. Ben L. Reitman.
Rowohlt, 1996. DM 14,90