Solinger Grundgesetz: Kissels Pfründe auf ewig gesichert

„Reizthema“ Kissel und Scholl-Schule: Erst kommt das Geschäft, dann die Moral?

Lang erwartet worden war sie, die große Diskussion um Kissel und den Erweiterungsbau an der Geschwister-Scholl-Schule. Dabei war, wie so oft bei öffentlich geförderten Debatten, das, worüber zu diskutieren war, längst entschieden: Kissel baut an der Scholle, basta – ein super Coup für den rechten Baumagnaten, der sich nun verstärkt einbilden kann, daß er den Widerstand gegen seine Person voll unter Kontrolle hat – und das ist, wie Leute zu berichten wissen, die ihn kennen – sein allerliebstes Steckenpferd. Anlaß, sich in seiner Macht zu suhlen, hatte der millionenschwere Ex-Wehrmachts-Offizier erst recht nach dem Verlauf der Diskussionsveranstaltung am 21. 02. 97 in der Scholle.

Oberstadtdirektor Ingolf Deubel (SPD), der den Bauauftrag vergeben hatte, war gekommen, um dem geneigten Publikum die getroffene Entscheidung zu erläutern. Als Vertreter ihrer Parteien waren aufgeboten: Bertl (SPD), Welzel (CDU), Löhrmann (Grüne). Vervollständigt wurde das Podium von einem Pfarrer, einer Lehrerin und zwei Schülerinnen der ”Weißen Rose”. Ca. hundert ZuhörerInnen waren auch da.

Verantwortlich zeichnend für den erneuten Deal der Stadt mit Kissel, stand Deubel – wie sollte es auch anders sein – im Zentrum der Kritik: Er als Entscheidungsträger hätte doch etwas tun können/sollen, damit der Auftrag nicht an Kissel vergeben wird. Aber das focht den Deubel nicht an. Er, dem dieses Anliegen der Bürger (machen wir uns nichts vor) auch vorher keinen Pfifferling wert war, blieb ganz cool während der Diskussion, rechtfertigte sein Handeln mit der ”Verfassung”, und als er nach Ende der Veranstaltung gemessenen Schrittes zu seinem Benz ging, sah er rundum zufrieden aus.

Parole ”Links steht der Feind”

Zufrieden konnte der Mann auch sein. Hatte er doch einen Superjob hingelegt, als er den über hundert mehrheitlich jugendlichen Anwesenden verklickert hatte, daß man behördlicherseits gegen Kissel nichts, aber auch gar nichts ausrichten könne, und das aus Prinzip: ”Unsere Verfassung” gebiete es so. Kissel baue schließlich vor allem super Häuser, und, wenn auch längst als Freund rechtsextremen Gedankenguts geoutet, sei er schließlich diszipliniert genug, sich nicht offensichtlich außerhalb der Gesetze zu stellen. Wie immer man zu Kissel auch stehe, seitens der Politik stünde nichts zu tun an, und diejenigen, die ernsthaft dagegen seien, daß die Stadt weiter Bauaufträge an seine Firmen vergebe, würden damit nur totalitären Ideen nachhängen, und das (bravo, Ingolf) sei das eigentlich Gefährliche an den Kisselgegnern!

”Verfassungsgemäßer” Faschismus – ein Wiederholungszwang?

So weit, so schlecht, das war so ziemlich das gleiche, was CDU-Welzel an den Mann zu bringen versuchte, aber während der eher als gehorsamer Wasserträger in der Kissel-Verteidigerkette rüberkam, glänzte Dr. Deubel mit menschlich anmutender ”persönlicher” Kritik und eigenen stirnfaltigen Absagen an Kissels Ansichten und Person. Würde Kissel in privater Angelegenheit zu ihm kommen wollen, würde er ihn ”rausschmeißen” – aber egal, ob er ihn ”sympathisch” finde oder nicht, das dürfe sich eben in der Politik nicht auswirken. Für ein rechtliches Vorgehen gegen Kissel gebe es keinerlei auch nur mögliche demokratische Legitimation. Art. 3 des Grundgesetzes gebiete den Gleichbehandlungsgrundsatz, unter dessen Schutz auch die Interessen des Herrn Kissel stünden. Erst recht die Meinungsfreiheit gelte definitiv für alle, also auch für Herrn Kissel, und wer das nicht einsehen wolle, dem sei irgendwie nicht zu helfen.

Zwar noch nicht ganz so heftig, so stank es doch original nach dem Weimarer Motto: Leute, seht doch ein, Hitler ist verfassungstreu, man muß ihn machen und reden lassen, sonst sind wir ein totalitärer Staat. Wirklich gefährlich sind doch nur die, die wollen, daß Hitlers Umtriebe von staatlicher Seite, also mit den Machtmitteln politischer Demokratie bekämpft werden. Die sowas wollen, müssen sich doch mal an die eigene Nase fassen, ob sie noch Demokraten  sind. Die sind nämlich das eigentliche Problem.

Kissel baut … zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

Trotz zahlreicher kritischer Stimmen in der Debatte … diese Lektion Deubels über den Gebrauch ”unserer Verfassung” kam rüber wie ne Wucht. Darüber, ob wir tatsächlich immer damit leben müssen, daß die Verfassung nach rechts offen zu sein habe wie ein Scheunentor, gab’s anscheinend überhaupt nichts zu diskutieren. Viele unter den Anwesenden äußerten zwar ihre Unzufriedenheit über die Zusammenarbeit zwischen Kissel und der örtlichen Politik, doch keiner konnte dem sich einstellenden Oberkonsens wirksam entgegenstellen: Die ”Verfassung” steht voll hinter jedem einzelnen, also auch hinter dir und Herrn Kissel.

Konsequenz: Auch die Geschwister-Scholl-Schule, egal ob die Namensgeber von Nazis hingemordet wurden oder nicht, baut der leistungsfähigste Bauunternehmer (denkt an Gleichbehandlungsgrundsatz und Meinungsfreiheit), and the winner is: Kissel der große … Förderer der NPD und Publizist rechtsextremen Schrifttums, Bewunderer und Fürsprecher von Erz-Naziverbrechern wie Weise und Remer, Auschwitzleugnern wie Irving und Christophersen usw. usw. (vgl. ”Faschisten hinter demokratischer Fassade”, Dokumentation des Antifa-Archivs Solingen)

”Unsere Verfassung” hat zur Folge: Kissel baut. Dies war das konkrete Ergebnis der Ausführungen des Dr. Deubel. Und zum Vorschein kam sogar des Pudels Kern: Sollen sich die ”lieben Bürgerinnen und Bürger” mit dem wachsenden faschistischen Potential und seinen millionenschweren Financiers doch alleine rumschlagen – das nennt man eben Demokratie!

Lichtblick: Die beiden Schülerinnen der ”Weißen Rose” ließen sich am allerwenigsten beschwatzen; bei ihren Fragen bekam Deubel Gegenwind zu spüren. Doch ist ernstlich zu fragen, ob die Zuhörer den Dreh in Deubels kleiner Verfassungskunde überhaupt mitgekriegt haben. Bertl (SPD) hatte eh nichts gegen Deubels Rechtskamellen; auch Löhrmann (Grüne), der Pfarrer, die Lehrerin sowie auch fast alle Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum erhoben insoweit keine Einwände; wenn der Politik aber schon keine Handhabe gegeben sei, so der Konsens, dann müsse wenigstens eine deutlichere öffentliche ”Distanzierung” zu Kissel her.

Eingeschränkte Grundrechte gestern und heute

Der einzige unter den Diskussionsteilnehmern, der sich nicht einverstanden zeigte mit dem (von Herrn Deubel erläuterten) Dogma, daß ”unsere Verfassung” den freien Zugang aller zu der Vergabe öffentlicher Gelder beschütze, hatte ganz schlechte Karten. Als er einen Regierungsbeschluß aus den frühen 50er Jahren erwähnte, nach dem sämtliche Firmen, die der KPD oder ähnlichen Organisationen nahestanden, bei öffentlichen Aufträgen nicht mehr zu berücksichtigen waren, äußerte die Moderatorin vom Podium aus augenblicklich ihre felsenfeste Überzeugung, daß  dieses  Beispiel  mit  dem  Thema  des Abends nichts, aber auch gar nichts zu tun habe. Von da an fiel sie dem in seiner Rede Fortfahrenden beständig ins Wort, der ließ sich aber trotz massivster Verbalintervention nicht daran hindern, noch ein paar Beispiele aus unserer jüngeren Geschichte (KPD-Verbot, Mißachtung menschenrechtlicher Gebote durch Behörden, ”Radikalenerlaß”, Kriminalisierung kurdischer Vereine) zu nennen, in denen ”die Politik” denselben Gleichbehandlungsgrundsatz mit Füßen trat, der nunmehr ausgerechnet als Persilschein für die öffentliche Förderung rechtsextremer Potentaten wie Kissel herhalten soll. Zu vielmehr als einem doppelten Wortschwall reichte es dann nicht mehr, und als die Rede darauf kam, daß Deubels Erläuterungen zu ”unserer Verfassung” bei demselben Oberguru deutscher Verfassungsrechtler nachzulesen seien, der nach seinem Tod als enger Freund des Verlegers der Nationalzeitung Dr. Frey geoutet wurde und jenem die Rechtsgutachten für die Wahlzulassung der DVU geschrieben hatte, konnte man die Live-Anwendung von Verfassungsrecht in der Praxis miterleben: Gleichbehandlungsgrundsatz und die Meinungsfreiheit des linken Unmenschen waren für den Abend dahin, der fiese Kerl wurde vom Mikrofon gedrängt, ohne daß Einwände aus dem Publikum zu hören waren.

Fortan blieb vor allem kleinere Münze zu verhandeln wie etwa die Frage, ob Herr Deubel oder sonstwer von der Stadt dem Herrn Kissel bei einer der unausweichlichen Baueinweihungen die Hand geben solle oder nicht, oder auch die seltsame Problematik, ob Herr Kissel nicht wenigstens soviel Anstand hätte besitzen können, sich aus Namensgründen nicht um den Bau einer Geschwister-Scholl-Schule zu bewerben …

Zum Weinen

”Erst kommt das Geschäft, dann kommt die Moral?” war die Frage der Veranstaltung. Deubels Antwort war: ”Wo denkt ihr hin, erst kommt natürlich die Moral, aber die wiederum hat nichts mit dem Geschäft zu tun, und dafür sorgt die Politik!” So sei eben ”unsere Verfassung” … falls wir’s noch nicht wüßten. Das Grundgesetz, ein krachender Herrenwitz? Scheint eine gängige Vorstellung heutiger Politprofis zu sein. Wenn aber derartige Betrachtungsweisen überall auf so wenig Widerspruch stoßen wie bei der Diskussionsveranstaltung in der Scholle am 21.2.97, dann dürften die Deubel & Co. recht behalten. Wär schade. Aber anhand des Verlaufs der Veranstaltung könnte man sich immerhin schon mal klarmachen, daß Dummheit nur dann siegt, wenn sie auf seiten der Macht steht.

Zum Lachen

Doch, war noch lustig, als nach Veranstaltungsende ein tacheles-Verteiler den Anwesenden unsere Märzausgabe anbot (die übrigens reißenden Absatz fand), u.a. auch dem Herrn Deubel … Sagte der Deubel: ”Sonen Quatsch lese ich nicht.” Das hörte Ministerpräsident Beck im fernen Mainz, und tags drauf war uns Ingolf schon zum Staatsekretär gekürt!

Ende vom Lied: Braune Fanfaren

Natürlich gab es auch noch ein Nachspiel. Klar, die Kisselfront mußte sich doch dagegen empören, daß Deubel über ihren Boss gesagt hatte, privat würde er ihn ”rausschmeißen”. Beliebtes Forum für die Ehrenrettung Kissels in allen Lebenslagen ist traditionell die Leserbriefseite des Solinger Tageblatts, das Meinungsäußerungen der äußersten Rechten offenbar für ein nicht hoch genug zu schätzendes Rechtsgut hält. Wie ließe sich sonst erklären, daß  vier von vier (=100%) der am 10.3.97 im ST abgedruckten Leserbriefen aus der Feder der Sowka, Ashauer, Küpper und Leinen (ganz im Stil von Reps und DVU) stammen, wobei eine ”ohne Hintergrund” (ach so!) betriebene ”Hetzjagd gegen einen Steuerzahler dieser Stadt” geortet wurde, an der nun auch noch der Deubel beteilige!

Nur neun Tage später erschienen im ST insgesamt fünf Leserbriefe zum Thema, im Durchschnitt zwar nicht ganz so rechts wie der Viererpack zuvor, aber wieder allesamt (=100%) pro Kissel. Der erste Schreiber (wieder Leinen) bezichtigte ”Politiker und Lehrer”, die sich gegen öffentliche Aufträge für Kisselausgesprochen hatten, der ”Indoktrination” – interessant: das gleiche Stichwort hatten Deubel und Welzel auf der Scholle-Veranstaltung ausgegeben. Zwei Schreiber (darunter der Betriebsratsvorsitzende Müller) trugen persönliche Lobpreisungen auf K. vor, ein weiterer Schreiber kam wieder mit dem bekloppten Tick von der angeblichen ”Hetzkampagne”, fünftens und letztens wurde einem neudeutschen Haudegen die Ehre zuteil, den rechten Kissel-Sack in klassischem Braun zuzuschnüren: Der ”verdiente Spender”  der NPD ”wird madig gemacht, nur weil er Dinge beim Namen nennt, die 80 % der Deutschen sich nicht trauen in Worte zu fassen. Bravo, zeigen Sie weiterhin Rückgrat, wir stehen voll hinter Ihnen” [W. Wilschewski auf der Leserbriefseite des ST vom 19.3.97]!

Und die hier festzustellende gruselige Quotierung auf der ST-Leserbriefseite ist  nicht unbedingt die Ausnahme. Die Redakteure des ST  sollten in der Lage sein wahrzunehmen, daß es in ihrer Verantwortung steht, ob sich ihr Blatt insoweit weiter in diese gefährliche Richtung bewegt. Mag sein, daß von kisselkritischer Seite – phasenweise oder  regelmäßig – weniger Briefe eingehen als von Kissel-Sympathisanten. Doch könnte dies noch lange nicht als Rechtfertigung dafür herhalten, daß man dem zur Zeit gewiß noch geringen Anteil rechtsextremer Klientel des Tageblatts ein derartiges Forum zur Verfügung stellt. So kann der der Abdruck einiger weniger kisselkritischer Leserbriefe zunehmend nur noch dazu dienen, den Anschein von Überparteilichkeit zu erwecken. Die ST-Leserbriefseite ist sicherlich dazu gedacht, den demokratischen Meinungsbildungsprozeß zu fördern. Warum das ST in letzter Zeit seine demokratische Leserschaft mit billiger Demogagogie aus der Feder nur spärlich getarnter Demokratiefeinde, noch dazu im attraktiven Doppel-, Vierer-, Fünferpack, regelrecht zuschmeißt, ist noch unklar. Aber irgendwas ist faul, das steht fest – es kann doch nicht angehen, daß zeitungserfahrene ST-Redakteure, die den Abdruck der Leserbriefe zu verantworten haben, die geballte Ladung rechtsextremer Töne, recht schrill auf der Neunazi-Normaltonleiter vorgeblasen, nicht bemerkt hätten.

Otto Mann