1.) Wie schätzen wir das Verhalten der Bevölkerung, insbesondere das Ausmaß des Engagements der Bevölkerung in Aktionen, Initiativen etc. ein?
Die ersten zwölf Monate nach dem Brandanschlag waren voller Engagement in puncto kleiner und größerer Projekte und Aktionen. Viele Schulen und Jugendgruppen beschäftigten sich mit dem Thema und starteten Projektwochen, runde Tische wurden gebildet, Kirchengemeinden waren aktiv, Spendengelder die in die Stadt flossen wurden breit gestreut und Projekte finanziert. Nach außen bot Solingen das Bild einer Stadt, die aktiv gegen Ausländerfeindlichkeit eintritt.
Kritisch betrachtet muß jedoch klar gesehen werden, daß die meisten Aktionen und Projekte nicht aus der „Betroffenheit“ eines bürgerlichen Spektrums heraus entstanden, sondern von Profis bzw. engagierten Personen und Gruppen initiiert wurden.
Noch während des ersten Jahrestages war zu spüren, daß die Anteilnahme der Bevölkerung recht lebendig war. Die Menschenkette mit über 10.000 Teilnehmern sprach für sich. Doch schon der zweite und dritte Jahrestag deuteten darauf hin, daß bis auf einige Aktivisten nicht mehr viel Engagement übrig geblieben war.
Immer lauter werden die Stimmen derjenigen, die vergessen, nicht erinnert werden wollen und Aktionen als „Nestbeschmutzerei“ empfinden.
2.) Wie schätzen wir das Umgehen der Stadt mit den Morden ein?
Die VertreterInnen unserer Stadt waren während der ersten „heißen“ Wochen nicht zu beneiden gewesen. Ganz klar verurteilten sie die Tat und versuchten Strategien zur Verbesserung der Völkerverständigung zu entwickeln. Rückblickend sind die ersten Früchte zu erkennen wie z.B. das internationale Jugendzentrum in Ohligs, die Arbeit der Fuhrgemeinschaft sowie verschiedene Projekte des Jugendamtes.
Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einzelnen politischen Gremien der Stadt in ihren Entscheidungsfindungen mehr als schwerfällig sind und wichtige Entschlüsse dadurch eher behindert werden (siehe Mahnmaldiskussion).
Vergleicht man in diesem Zusammenhang das nach dem Brandanschlag entwickelte Handlungskonzept der Stadt mit dem, was letztendlich davon umgesetzt wurde, dann klafft dort eine riesige Lücke. Stadtverwaltung, Politik und Bürgerinitiativen sprechen oft eine andere Sprache.
3.) Gibt es eine sichtbare Veränderung der Politik in bezug auf Rechtsextremismus und Rassismus?
Als Solingen in den Medien als „rechte Mordbrennerstadt“ bezeichnet wurde, ging ein Aufschrei durch die gesamte Bevölkerung. Nein! Solingen sei eine Stadt wie jede andere in Deutschland und nur ein unglücklicher Zufall habe dieses Attentat ermöglicht. Diese Einschätzung zu teilen fällt uns jedoch schwer.
Nie gab es eine einheitliche Stellungnahme der Politik zu rechten Aktivitäten in Solingen; nicht vor und auch nicht nach dem Brandanschlag.
Solingen und das Bergische Städtedreieck mußten bereits in der Vergangenheit immer wieder mit rechten Aktivitäten in Zusammenhang gebracht werden. Zu Rechtsradikalen wie Schlösser, Koch und anderen wurde nie konkret Stellung bezogen sondern sie wurden als ideologisch verblendete Spinner belächelt.
Solingens größter Bauunternehmer Günther Kissel erhält weiterhin öffentliche Bauaufträge und keiner traute sich lange Zeit diesem „Goliath“ entgegenzutreten.
Diese Scheuklappenpolitik ermöglichte wahrscheinlich auch, daß sich z.B. ein großer Militariaverlag in Solingen niederlassen konnte, der von hier aus in aller Ruhe die internationale Waffenmesse COPEX in Bonn organisierte.
Im November letzten Jahres wurde in Langenfeld-Krüdersheide, hundert Meter hinter der Solinger Stadtgrenze, ein riesiges Archiv mit Schriften und Nazipropaganda vom Staatsschutz beschlagnahmt. Die örtliche Presse wehrte sich vehement dagegen, einen Zusammenhang zu Solingen hergestellt zu sehen. Dabei ist selbst vom Verfassungsschutz belegt, daß der Inhaber des Lagers, Kurt Winter, und Günther Kissel in der Düsseldorfer Herrenrunde Kontakte pflegen.
Keine zwei Wochen später (Totensonntag) plante der ADI (Arbeitskreis Deutscher Interessen) eine Kranzniederlegung im Walder Stadtpark. Es kam zu einer spontanen Gegendemonstration engagierter Gruppen. Eine Kranzniederlegung an diesem Ort fand nicht statt. Jedoch am selben Abend marschierten in Solingen Oberburg Neonazis ihren Helden gedenkend im Fackelschein und unter den Augen der Öffentlichkeit. Die SOS Telefonkette wurde ausgelöst.
Versuche, eine öffentliche Stellungnahme der Politik zu bekommen verliefen im Sande. Es wurde vor allem von der Polizei geleugnet, daß es einen derartigen Aufmarsch in Solingen gegeben habe.
Drei Jahre nach dem Brandanschlag können in Solingen rechte Kräfte immer noch aktiv werden. Dies läßt sich nur durch eine „Vogel-Strauß-Politik“ erklären.
4.) Was hat sich für die Deutschen in Solingen verändert?
Einige Solinger Bürger sind wach geworden und versuchen seitdem mit Aktionen und Engagement gegen Ausländerfeindlichkeit aktiv zu werden. Bürgerinitiativen wie Öffentlichkeit gegen Gewalt oder SOS-Rassismus sind Beispiele dafür. Auch gibt es bei einigen Privatpersonen eine größere Sensibilität für dieses Thema und den Willen sich zu engagieren.
Der Großteil der Solinger Bevölkerung scheint jedoch in seiner Einstellung fremden Kulturen und politischem Engagement gegenüber den Rückzug angetreten zu haben. Die Meinungsäußerungen haben hier mittlerweile eine Bandbreite angenommen, die von…“Ich hab ja nichts gegen Ausländer, aber…“ bis hin zu…“Ausländer raus aus Solingen“ gehen.
Die Solinger Gerüchteküche wird weiterhin gekocht und Aktionen werden mittlerweile nur noch von den sowieso schon Engagierten besucht bzw. gemacht. Hinzu kommt, daß die Solinger Wirtschaft ein großes Interesse am Markenzeichen Solingen hat und die Imagekampagne „sauberes Solingen“ verkauft.
Wen wunderts, wenn von Arbeitslosigkeit verängstigte Bürger dies unterstützen?!
5.) Was hat sich für die Menschen ohne deutschen Paß verändert?
Das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft kann sich nicht von heute auf morgen einstellen bzw. kann auch nicht durch die wohlgemeintesten Aktionen herbeigezwungen werden. Eine multikulturelle Gesellschaft braucht vielmehr ein gesundes soziales und politisches Fundament, auf dem unterschiedliche Kulturen leben können.
„Nach Solingen“ wurden viele politische Lippenbekenntnisse von der Notwendigkeit der Beseitigung von Gewalt und Rassismus gemacht und eine bessere Völkerverständigung herbeigeredet. Für Menschen ohne deutschen Paß ist dies jedoch nicht greifbar.
Einerseits wird zunehmend das Ausländerrecht beschnitten und die „Festung Deutschland“ errichtet und auf der anderen Seite hat sich in Solingen kein Sinneswandel der Behörden, z.B. des Ausländeramtes, eingestellt.
Sicherlich können diese auch nur nach den ihnen vorliegenden Gesetzen und Richtlinien verfahren; aber der Brandanschlag hätte bei ihnen auf jeden Fall ein größeres Maß an Sensibilität für ihre Klienten herbeiführen sollen. Erstaunlicherweise werden Menschen ohne deutschen Paß in anderen Städten freundlicher, höflicher und mit einem größeren Ermessensspielraum bei der Gesetzesauslegung behandelt. Einen Schritt nach vorne… zwei Schritte zurück…
Drei Jahre nach dem Solinger Brandanschlag muß man sich über die wenigen Dinge freuen, die im Sinne der Völkerverständigung passieren.
Wo wäre unsere Stadt, wenn es nicht die paar Menschen gäbe, die sich ernsthaft einsetzen???