Drei Jahre danach – Stellungnahme zur Frage: Was hat sich in der Stadt verändert?

Aus Anlaß des dritten Jahrestages des Brandanschlages schrieb die tacheles einige Vertreterinnen von antirassistischen Gruppen sowie den Oberbürgermeister an, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Einschätzung der Entwicklungen in dieser Stadt in den letzten drei Jahren zu beschreiben. Leider erreichte uns nur die Antwort des Oberbürgermeisters und die eines Mitglieds des Solinger Appells. Zugegeben, unsere Fristsetzung von fünf Tagen für eine Antwort war wegen des drohenden Redaktionsschlusses sehr knapp bemessen. Wir halten das Thema jedoch für sehr wichtig und würden uns freuen, wenn die Angeschriebenen sowie weitere Gruppen, die Interesse haben, uns zur nächsten Ausgabe, die im Frühherbst erscheinen wird, eine Stellungnahme schreiben würden. Wir hatten folgende Fragen als Anregung formuliert:

– Wie schätzt Du/Sie das Verhalten der Bevölkerung, insbesondere das Ausmaß des Engagements der Bevölkerung in Aktionen, Initiativen etc. ein?

– Wie schätzt Du/Sie das Umgehen der Stadt mit den Morden ein? Gibt es eine sichtbare Veränderung der Politik in Bezug auf Rechtsextremismus, Rassismus…?

– Was hat sich für die Deutschen in Solingen geändert?

– Was hat sich für die Menschen ohne deutschen Paß geändert? (z. B. im Verhalten des Ausländeramtes, im Verhältnis zwischen Deutschen und „Ausländerinnen“….)

– Findest Du/Sie es ausreichend, was in dieser Stadt nach dem Anschlag passiert ist und passiert?

Im folgenden dokumentieren wir also die bei der tacheles eingegangenen Stellungnahmen, für die wir uns bedanken:

Stellungnahme von Oberbürgermeister Gerd Kaimer

Der Brandanschlag von 1993 ist für die eingesse-ne Bevölkerung Solingens ein Schock gewesen. Daß viele Solinger Türkinnen und Türken in den Tagen nach dem Anschlag sogar ihr eigenes Leben bedroht sahen, ist von der Öffentlichkeit nicht voll wahrgenommen worden. Bei Deutschen waren die Gefühle vielfältig, vom Mitgefühl mit den getöteten Mädchen und Frauen und den Überlebenden der Familie, von tiefer Scham darüber, daß so etwas in unserer Stadt möglich war bis zur Verärgerung darüber, als Solinger Bürger von vielen Medien kollektiv mitschuldig gesprochen worden zu sein, die die Stadt als „braunes Mordbrennerloch“ diffarmier-ten. Doch das ist Solingen niemals gewesen. Natürlich gibt es auch in 5olingen bei einer verschwindenden Minderheit rechtsradikales Gedankengut, das von den Menschen in unserer Stadtnach dem Anschlag und auch durch Dokumentation in den Medien sicher ernster genommen wird als vorher.Dafür spricht nicht nur, daß bis zum Mai 1993 die Menschen der unterschiedlichen Nationen seit langen Jahren – sicherlich nicht in idealer Weise – aber doch gewaltfrei miteinander gelebt haben. Solingen war eine der ersten Städte, in denen ein Ausländerbeirat eingerichtet wurde. Auch das sollte nicht vergessen werden. Dafür spricht aber auch die große Zahl bürgerschaftlicher Initiativen, die nach dem Anschlag entstanden. 20 000 Menschen fanden sich am ersten Jahrestag des Anschlages auf den Solinger Straßen zu einer Menschenkette zusammen. Schülergruppen haben sich in unterschiedlichster Weise immer wieder mit dem Thema auseinendergesetzt, eine Schule hat Kontakt mit Mercimek und Tasova in der Heimat der Familie Geng aufgenommen, und bereits zum dritten Mal einen Schüleraustausch organisiert, in Ohligs ist eine internationale Jugendbegegnungstätte entstanden. Und Vereine wie SOS – Rassismus und „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ werden auch in Zukunft zur Integration und gegen Ausländerfeindlichkeit kämpfen. Daß auch der Rat der Stadt den Brandanschlag als Teil der Geschichte dieser Stadt nicht verleugnet, beweist ein 20 Meter hohes Gemälde an der Rathauswand, das zum zweiten Jahrestag entstanden ist – von Künstlern entworfen und von Jugendlichen gemalt. Was das Zusammenleben von eingesessenen Deutschen und Zugewanderten betrifft, so ist hier (aber nicht nur in Solingen) noch vieles zu leisten, bis von voller gegenseitiger Akzeptanz und von echtem Verstehen gesprochen werden kann. Die Politik muß klarer machen als bisher, daß Menschen, die mit ihren Familien hier zum Teil seit mehr als 20 Jahren leben, keine „Gäste“, sondern ein Teil unserer modernen deutschen Gesellschaft sind. Rechtliche Probleme auf dem Weg dahin sind aber nicht in Solingen zu lösen.

Stellungnahme eines Mitglieds des Solinger Appells

Drei Jahre danach ist Solingen wieder zur scheinbaren Normalität zurückgekehrt. Zumindest kann mensch in dieser Stadt diesen Eindruck bekommen.

Von außen betrachtet ist Solingen nach wie vor ein Synonym für rassistische Übergriffe gegen Ausländerinnen in der ganzen Bundesrepublik. Solingen steht eben in einer Reihe mit Rostock, Mölln und Lübeck. Daran ändert auch nichts, daß der Leiter des Presseamtes, Herr Laute, nicht mit derartigen Städten in einem Atemzug genannt werden möchte: „Auf Rostock oder Mölln liegt kein Gütezeichen“ (zitiert nach Stern 25.11.93). Dieses Nicht-annehmen-wollen der besonderen Verantwortung scheint mir das Hauptproblem bei der Aufarbeitung des Mordanschlages zu sein. Nun soll diese Einschätzung keineswegs verallgemeinert werden. Es gibt an
vielen Schulen durchaus sehenswerte Projekte, die Rassismus und Antisemitismus unter großer Anteilnahme der Schülerinnen thematisieren. Es gibt Initiativen wie Öffentlichkeit gegen Gewalt, die sich sehr engagiert für Flüchtlinge einsetzen – allerdings sollte mensch sich einmal anschauen, wie wenige aktive Mitarbeiterinnen auch die bekanntesten dieser Initiativen in der 160 000-Einwohnerlnnen-Stadt Solingen haben. Die große Mehrheit der Solingerlnnen macht auf mich den Eindruck, daß sie auf dieses Thema nicht mehr angesprochen werden will. Eine Ursache dafür könnte das Mißverständnis sein, es ginge bei der Aufarbeitung darum, daß Solingen eine besondere Schuld abzutragen habe. Die Schuld der Solingerlnnen ist nicht größer und nicht kleiner als die der allermeisten Deutschen, die seit lahren die nicht abreißende Kette von rassistischen Mordanschlägen aus uninteressierter Distanz beobachten. Erschreckend finde ich allerdings, daß dieser kollektive Autismus auch noch in einer Stadt funktioniert, die derart mit den Folgen des Wegsehens konfrontiert wurde.

Was hat sich nun wirklich verändert? Zunächst: Für die „Ausländerinnen“: – Das Solinger Ausländeramt hat nach wie vor einen auch in der Region bekannten schlechten Ruf. Hier hat weder eine Umstrukturierung stattgefunden, die dieses Amt endlich aus dem Dezernat für „Recht, Sicherheit und Ordnung“ ausgliedert und in das Sozialdezernat integriert, noch ist eine Verhaltensänderung der Mitarbeiterinnen zu beobachten (von einzelnen Ausnahmen abgesehen: Nach hartnäckigem Bohren im Sozialausschuß scheint es jetzt eine Verbesserung bei der Erteilung der Dauer von Duldungen zu geben, die sich damit der Praxis in anderen Städten angleicht). – Ein sichtbarer Fortschritt ist die Abschaffung der Gutscheinpraxis für Flüchtlinge, die gegen den hartnäckigen Widerstand der Verwaltung erreicht werden konnte – allerdings war sie in vielen Städten in NRW schon früher abgeschafft worden. – Die Unterbringungssituation für Flüchtlinge ist nach wie vor in manchen Heimen katastrophal. 1995 waren in einigen Zimmern bis zu 8 Personen untergebracht, im Schnitt teilten sich 2,96 Personen ein Zimmer wobei ein riesiger Saalkomplex in einem Heim, in dem 68 (!) Betten für Flüchtlinge standen, noch nicht einmal mitgerechnet war. Auch in diesem Saalkomplex werden immer noch Menschen untergebracht. Jahrelang mußten die Bewohnerinnen eines anderen Flüchtlingsheimes ohne Duschen leben, ein Zustand, der erst vor kurzem geändert wurde. Es ist in den letzten Jahren wiederholt vorgekommen, daß Flüchtlinge aus anderen Heimen in diese Heime ’strafversetzt‘ wurden. Durch diese Praxis wurden Konflikte mit der Nachbarschaft geradezu provoziert. – Ich habe den Eindruck, daß der Brandanschlag und das seltsame Verhalten vieler Solingerlnnen, die die Ausschreitungen in der Woche danach offensichtlich schlimmer fanden als ihre Ursache, bei türkischen Jugendlichen den Rückzug in die Abschottung von der als integrationsunwillig erfahrenen „deutschen“ Gesellschaft verstärkt hat. Das Anwachsen des türkischen Nationalismus ist auch in anderen Städten zu beobachten. Es müssen endlich grundlegende Integrationsschritte unternommen werden. Die volle politische und soziale Gleichstellung aller hier lebenden Menschen muß durchgesetzt werden.

Was hat sich für die Deutschen verändert? –

Nach wie vor gibt es beim Jugendamt nur eine halbe Stelle für politische Bildung. Damit soll offensichtlich weiterhin die gesamte Aufklärungsarbeit über Rassismus und Rechtsextremismus organisiert werden. – Im Jahre 1996 will sich die
Stadt endgültig von ihrem am 3. 3. 1994 gefaßten Ratsbeschluß, „zum Gedenken an den Brandanschlag zu Pfingsten 1993 ein Mahnmal zu errichten“, verabschieden: „In vielen intensiven Gesprächen mit den Betroffenen und anderen Gruppen habe ich aber einen Konsens erreicht, daß es bei dem bestehenden Mahnmal bleibt“ sagte OB Kaimer (ST 18.4.1996). Es solle kein Mahnmal bzw. keinen Gedenkstein in der Innenstadt geben. Einmal abgesehen davon, daß die Mehrheit des grünen Kreisverbandes am 24.4.1996 beschloß, weiterhin an der Forderung nach einem Gedenkstein „in zentraler Lage der Innenstadt“ festzuhalten: Der Verzicht auf ein sichtbares städtisches Zeichen der Trauer und des Erinnerns in der Innenstadt ist ein Zurückweichen vor der Stimmungsmache in dieser Stadt gegen Frau Genç, aus Angst vor dem rechten Gedankengut, das wieder hochkommen könnte, wenn mensch mit einem solchen Denkmal zu sehr „provozieren“ würde. So ist dem Rechtsextremismus nicht beizukommen. – Das Verhalten der Stadt gegenüber dem rechtsextremen Günther Kissel ist nach wie vor skandalös: Er wird weiterhin von der Stadt für Fördermittel des Landes vorgeschlagen, weiterhin weihen der Oberstadtdirektor und der Oberbürgermeister Bauten ein, die Kissel errichtet hat, weiterhin treffen sich Politikerinnen mit Kissel bei Treffen mit der Kreishandwerkerschaft, deren Bauinnung sich nicht zu schade ist, ihn immer Wieder zu ihrem Obermeister zu wählen.