Von Fotos und anderen Dingen, die es nie gegeben haben darf
Am 3. 8. fand ein Polizeieinsatz gegen eine Geburtstagsfeier an der Richard-Wagner-Str. statt, bei dem mehrere BesucherInnen erheblich verletzt wurden. Mehrere tacheles-RedakteurInnen sahen sich ebenso wie der SPD-Vorsitzende Hans-Werner Bertl (er sprach später von der “Unverhältnismäßigkeit der Mittel” beim Polizeieinsatz) unmittelbar nach der Polizeiaktion im Haus um. Wir sprachen mit den verbliebenen FetenbesucherInnen sowie Nachbarn. Nach ihren Berichten stellt sich der Vorfall wie folgt dar:
Nach einer Beschwerde wegen ruhestörenden Lärms erschienen gegen 23 Uhr 30 mehrere PolizeibeamtInnen vor dem Haus an der Richard-Wagner-Str., in dem der 30. Geburtstag einer Bewohnerin gefeiert wurde. Zuvor waren etwa fünf Sylvesterknaller, zum größten Teil durch Kinder, auf die Straße geworfen worden. Es wurden keine Gegenstände auf die dann eintreffenden PolizistInnen geworfen. Die Musik (die aus einem tragbaren Radiocassettenrecorder kam) wurde unmittelbar nach Bekanntwerden der Beschwerden leiser gestellt. Als mehrere Polizeibeamte durch den Hausflur in das Haus eindringen wollten, rannte der kleine Hund einer Bewohnerin aus dem Haus Richtung Straße. Die Bewohnerin, eine junge Mutter, wollte den Hund, der die Polizeibeamten in keiner Weise angegriffen hatte, zurückholen und wurde von einem Polizeibeamten ins Gesicht geschlagen und auf eine Automotorhaube geschmissen. Sie mußte anschließend wegen des Verdachts auf einen Nasenbeinbruch im Krankenhaus behandelt werden.
Die Polizei wollte anschließend die Personalien aller Fetenbesucher aufnehmen. Über die Form der Personalienfeststellung wurden vor dem Haus Gespräche zwischen BewohnerInnen und BesucherInnen und PolizistInnen geführt. Als die daran beteiligten BesucherInnen in das Haus zurückgingen, um mit den anderen BewohnerInnen und BesucherInnen darüber zu sprechen, drangen zahlreiche Polizeibeamte in das Haus ein und schlugen auf mehrere Personen in der Küche ein, die ihre Ausweise nicht schnell genug zeigen wollten, die jedoch keinerlei Gewalt gegen Beamte angewendet hatten. Dabei kam es zu erheblichen Verletzungen mehrerer Fetenbesucher, die anschließend im Krankenhaus behandelt werden mußten. Desweiteren wurde von Polizisten u. a. die Heizung aus der Wand gerissen. Unmittelbar nach dem Polizeieinsatz waren zahlreiche noch frische Blutflecken der BesucherInnen auf dem Fußboden zu sehen und wurden dokumentiert. In die Etage darüber drangen die Polizisten ebenfalls ein. Hier mußten drei völlig verängstigte Kinder mitansehen, wie die Wohnung von Polizisten durchsucht wurde. Im darüberliegenden Schlafzimmer wurden zahlreiche Kleidungsstücke von den Polizisten aus den Regalen geworfen. Bei dem Polizeieinsatz wurden 7 Personen verhaftet und zum größten Teil erst am nächsten Morgen freigelassen.
Eine Bewohnerin des Hauses – das Geburtstagskind – fotografierte den Prügeleinsatz in der Küche des Hauses und machte ca. 15 Aufnahmen. Daraufhin wurde ihr die Kamera mitsamt eingelegtem 36-Bilder-Film abgenommen. Im maschinengeschriebenen Durchsuchungs / Sicherstellungsprotokoll, das am 5. 8. den BewohnerInnen ausgehändigt wurde, heißt es im Verzeichnis der sichergestellten Gegenstände “Fotokamera mit Film”. Zusätzlich wurde die Sicherstellung des Films handschriftlich von einem Beamten auf dem Protokoll vermerkt. Neben der Kamera wurden eine Cassette und eine Broschüre sichergestellt, die ebenso wie die Kamera, nicht aber der Film, den BewohnerInnen zurückgegeben wurde. In einer Presseerklärung forderten Bündnis 90/die Grünen nach dem tagelangen Schweigen der Polizei zum Inhalt des Films, daß der Film mit den Bildern vom Polizeieinsatz “der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird, damit nicht der Eindruck entstehen kann, hier solle irgendetwas verschleiert werden”.
Am 7. 8., drei Tage nach dem Vorfall, erklärte Polizeisprecher Uli Schulte: “Es gibt keinen Film!” Das Solinger Tageblatt, das zunächst einseitig die Polizeiversion des Einsatzes verbreitete, lief spätestens zu diesem Zeitpunkt doch noch zu ungeahnten journalistischen Höhen auf und berichtete: “Die Kamera war nach gesicherten ST-Informationen weder ordnungsgemäß asserviert, geschweige denn war — wie vorgeschrieben — das Gehäuse versiegelt worden”. Zwischenzeitlich war die Kamera u. a. in einem “von Polizeibediensteten frei zugänglichen Zimmer der Hauptwache aufbewahrt”. Das ST bezeichnete das Verschwinden des Films als “Skandal — und ein gefährlicher dazu.” “Der so aufkommende schwere Verdacht der Beweisunterdrückung durch einen oder mehrere an dem Einsatz beteiligte Beamte steht damit im Raum — ein zumindest in den letzten 30 Jahren einmaliger Fall in Solingen.” Dem läßt sich nur hinzufügen: Welchen Polizeiskandal gab es vor 30 Jahren?
Stattdessen ermittelt die Polizei wegen des “Verdachts des Landfriedensbruchs, Verdachts des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Körperverletzung” gegen die FetenbesucherInnen. Die BewohnerInnen und BesucherInnen ihrerseits haben ihre Anwälte beauftragt, Strafanzeige gegen die beteiligten PolizistInnen wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Körperverletzung zu stellen. Mindestens eine weitere Person, die Teile des Polizeieinsatzes gesehen hat, hat wegen der unverhältnismäßigen Brutalität der Behandlung der FetenbesucherInnen ebenfalls Strafantrag gestellt.
Es bleibt der Eindruck, daß hier ein völlig überzogener und brutaler Polizeieinsatz aufgrund eines alltäglichen Vorfalls (Ruhestörung bei einer Geburtstagsfete) durchgezogen wurde. Da es sich bei den BewohnerInnen z. T. um ehemalige HausbesetzerInnen handelt, die die Wohnung an der Richard-Wagner-Str. jedoch von der Stadt ganz normal gemietet haben, handelt, bleibt ein fataler Verdacht: Handelte es sich um eine Racheaktion gegen junge Leute, die früher mit Demonstrationen und Hausbesetzungen gegen den Skandal des Leerstehenlassens von Wohnraum protestierten? Dazu paßt, daß Beamte (unter den Polizisten waren tatsächlich auch Beamte der Autobahnpolizei, die nun weiß Gott Besseres zu tun hat) gegenüber Augenzeugen äußerten, sie hätten den Eindruck gehabt, sie sollten hier ein besetztes Haus räumen.
Dietmar Gaida