Rede anlässlich des Mahngangs für die deportierten Solinger Sinti und Roma
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Kurzbach,
sehr geehrter Herr Knoche,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir Sinti und Roma teilen mit den Juden das Schicksal der Verfolgung und der systematischen Vernichtung im nationalsozialistischen Deutschland und in den von Nationalsozialisten besetzten Ländern Europas.
Orte wie Auschwitz, Majdanek, Treblinka, wie Dachau, Buchenwald oder Bergen-Belsen stehen auch symbolhaft für den Völkermord an unserer Minderheit, dem 500.000 unserer Frauen, Männer und Kinder zum Opfer fielen.
Die Wirklichkeit der Verfolgung und das menschliche Leid, das hinter dieser abstrakten Zahl steht, übersteigt unser aller Vorstellungskraft.
Zu den Opfern der rassistischen Vernichtung von Sinti und Roma gehörten auch 55 Menschen aus Solingen. Sie wurden 5. März 1943 nach Auschwitz deportiert. Keiner von ihnen kehrte zurück.
Der staatlich organisierte Massenmord, für den insbesondere der Name Auschwitz steht, war das Ergebnis eines langen Prozesses der Entrechtung und Ausgrenzung. Von Anfang an wurden neben Juden auch Sinti und Roma zu angeblich „rassischen Feinden“ des Dritten Reiches, zu so genannten „Fremdrassigen“ erklärt.
Unsere Familien waren seit vielen Generationen in Deutschland verwurzelt. Sie waren Deutsche und fühlten sich als Deutsche. Zahlreiche Sinti hatten im Ersten Weltkrieg fürs Vaterland gekämpft und hohe Auszeichnungen erhalten. All das zählte 1933 nicht mehr.
Sinti und Roma wurden – vom Säugling bis zum Greis – nach „rassenbiologischen“ Kriterien erfasst, ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, in Gettos gepfercht – und schließlich in die Todeslager deportiert und der Vernichtung preisgegeben.
Nach der Befreiung wurden die Völkermord-Verbrechen an den deutschen Sinti und Roma und den europäischen Roma jahrzehntelang verleugnet und verdrängt. Die Politik und die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland bestritten die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma, und die „Mehrheitsbevölkerung“ wollte davon nichts wissen.
Erst im März 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt auf unsere Initiative hin den Völkermord an den Sinti und Roma an.
Wir deutschen Sinti sind seit 600 Jahren ein fester Teil der sogenannten „Mehrheitsbevölkerung“. Die deutschen Roma gehören seit 200 Jahren dazu. Deutschland ist unsere Heimat.
Das ist vielen Menschen bis heute nicht bewusst. Die meisten Menschen im unseren Land kennen keine Sinti und Roma persönlich. Sie kennen nur die Bilder, die von Massenmedien verbreitet werden.
Daher erinnern wir an die Geschichte unserer Minderheit in diesem Land und immer wieder besonders an die systematische, rassistische Verfolgung und Vernichtung unter dem Nationalsozialismus und an die Nachkriegsgeschichte der Verleugnung und Verdrängung.
Dabei kann es heute nicht darum gehen, den Nachkommen der Täter Schuld aufzubürden. Der Sinn des Erinnerns und Gedenkens besteht vielmehr in der gelebten Verantwortung für die Gegenwart.
Grade in der heutigen Zeit, in der Extremisten darauf abzielen, die Grundlagen unseres friedlichen Zusammenlebens zu zerstören, ist gesellschaftliche Solidarität notwendig, um unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen.
Ein Rassismus und eine nationale Propaganda, die wir lange nicht mehr für möglich gehalten hatten, bedrohen nicht nur Minderheiten. Sie zielen auf Abschaffung der Demokratie und Rechtstaatlichkeit. Es liegt in unserer aller Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dies nicht gelingt.
Ich danke Ihnen.
Roman Franz
Erster Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen des Verbandes Deutscher Sinti und Roma e.V.