Am 24. Mai erreichte auch mich der offene Brief an alle im Rat vertretenen Parteien von der Lehrerschaft der Geschwister-Scholl-Schule. Sie appellieren an uns, gegen die Bauvergabe für den Erweiterungsbau ihrer Schule an Herrn Kissel zu stimmen. Lehrerinnen der Schule sprachen mich auch persönlich an und baten mich, eindeutig Stellung zu beziehen. Sie begründeten, daß es für sie fast unmöglich sei, auf der einen Seite gegen Rassismus, Faschismus Unterricht zu gestalten und auf der anderen Seite widerspruchslos hinzunehmen, daß jemand, der als Mitglied der Waffen-SS das 3. Reich mit garantiert hat, den Bauauftrag für die Erweiterung der Geschwister-Scholl-Schule erhält. Es ist schwer zu vermitteln, daß das eine mit dem anderen nichts zu tun hat, besonders an Jugendliche. Für sie ist der Bauunternehmer und die Privatperson ein und derselbe, denn er kann sich nicht leiblich teilen.
Oft höre ich, daß Menschen sagen, sie können es sich nicht leisten, zu dem zu stehen, was sie für wert und wichtig halten. Die Folge davon sind oft genug innere Spannungen unter denen der/die Betroffene, aber auch alle anderen, leiden. Mir ist es wichtig, und dies vermittle ich auch in meiner Kinder- und Jugendsprechstunde, daß Menschen Stellung beziehen und eine eigene Meinung entwickeln. Es ist ungeheuer schwierig, auch für mich, eindeutig zu sein, denn alles was geschieht ist so komplex, daß jeder Gedanke einen Widerspruch beinhaltet.
Nach dem entsetzlichen Brandanschlag vor drei Jahren befaßten sich viele engagierte Kreise wiederum mit Herrn Kissel. Wir alle spürten, wieviel Macht das 3. Reich noch über viele Menschen hat, weil die Saat aus dieser unheilvollen Zeit immer noch Früchte trägt. Ich kann dies nicht an der Person des Herrn Kissel allein festmachen. Die Leserbriefaktionen für Herrn Kissel, die Anfeindungen, denen Menschen ausgesetzt waren, die sich mit Herrn Kissel kritisch befaßten, zeigten, wie wenig sich viele Menschen mit der Geschichte des 3. Reiches auseinandergesetzt haben und nicht nur aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie nationalsozialistisches Gedankengut heute noch bejahen.
Im Angesicht von Millionen Menschen, die einen systematisch in Konzentrationslagern ermordet, die anderen (auch deutsche Frauen und Männer) bei Fliegerangriffen und auf Schlachtfeldern umgekommen, gibt es nichts, was uns erlaubt zu sagen, es war dennoch eine schöne Zeit. Eine eingeschworene Gemeinschaft wie in der Waffen-SS, in der Herr Kissel aktiv war, birgt große Gefahren, deckt doch der eine den anderen, egal was er getan hat.
Die Ausstellung in der Mildred-Scheel-Schule zum 3. Jahrestag des Brandanschlages mit dem Titel „Es ist ein Weinen in der Welt“ hat mich sehr beeindruckt und mir zugleich Schmerzen bereitet. Was können wir Menschen Monster sein, daß wir zu solchen Taten, wie sie im Namen des deutschen Volkes geschahen, fähig waren?
Auch Leni Immer im „Talk à la carte“ in der Gemeinde Ruppelrath hat mir wieder Mut gemacht, couragiert gegen jede Form von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit einzustehen. Ihr Vater, ein Elberfelder Pfarrer, gehörte der bekennenden Kirche an. Sie, der Schulleiter, die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler der Mildred-Scheel-Schule, Leni Immer und aktive Christen in der Gemeinde Ruppelrath haben Stellung bezogen. Mit den Menschen, die das Mahnmal schafften, die Erzieher und Schülerinnen und Schüler der Jugendhilfewerkstatt und die, die sich in Ringen bekannten, fühle ich mich im wahrsten Sinne des Wortes verbunden, sowie mit all denen, die um Wahrheit ringen und auch dazu stehen, daß sie dabei auch Fehler machen können.
Ich nehme das Verlangen der Lehrerschaft und der Schülerinnen und Schüler der Geschwister-Scholl-Schule ernst, wenn sie erwarten, daß Politik Stellung bezieht und weiß dabei auch, wie schwierig dies ist. Herr Kissel muß sich gefallen lassen, daß sich Menschen mit ihm auseinandersetzen und sich an ihm reiben, denn er erlaubt sich ja zu sagen und zu schreiben was er meint.
Ich bin dankbar in einer Stadt zu leben, in denen sich Menschen kritisch mit Geschichte auseinandersetzen. Daß sie dafür auch Anfeindungen ausgesetzt sind, ist schlimm genug.
Julia Freiwald, Bürgermeisterin