Libertärer Kommunalismus als Alternative zur Standortpolitik
Angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Lebensgrundlagen des Menschen und der Natur durch den Zwang zu immer stärkeren Vernutzung alles Lebendigen aus Gründen der vom System geforderten Profitmaximierung, wurden Modelle entwickelt, wie jenseits des kapitalistischen Systems das Zusammenleben der Menschen organisiert werden könnte.
Ein Vorschlag dazu ist das Konzept des libertären Kommunalismus.
Es wurde von dem US-amerikanischen Sozialökologen und Anarchisten Murray Bookchin entwickelt. Anders als im Staatssozialismus werden hier die Selbstbestimmung der Menschen und die Verantwortung des Menschen gegenüber der Umwelt zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er knüpft geschichtlich an die Selbstverwaltung in der griechischen Stadt und den mittelalterlichen Stadtstaaten an, will aber die auch hierbei grundlegenden krassen sozialen Ausgrenzungen vermeiden. Weitere historische Anknüpfungspunkte sind die Pariser Sektionsversammlungen in der französischen Revolution (Volksversammlungen in den Stadtvierteln) und die anarchistisch inspirierte Arbeiter- und Bauernselbstverwaltung in Katalonien 1936.
Der libertäre Kommunalismus will eine direkte Demokratie, in der die Menschen in autonomen Kleinstädten oder Stadtvierteln von Großstädten in Versammlungen zusammenkommen. Alle wichtigen Entscheidungen in diesen Stadtvierteln werden in EinwohnerInnenversammlungen diskutiert und abgestimmt.
Die Wirtschaft gehört den Kommunen. Über alle wichtigen Planungen, die Art der Produktion, des Anbaus etc. wird gemeinsam entschieden. Bookchin versteht die Kommunalisierung der Wirtschaft als die bessere Lösung gegenüber der Idee der anarchosyndikalistischen Selbstverwaltung der ArbeiterInnen in den Betrieben, da bei der Kommunalisierung verhindert wird, daß die ArbeiterInnen einer Firma gegenüber denen anderer Firmen in Konkurrenz treten. “Der libertäre Kommunalismus politisiert hingegen die Wirtschaft und läßt sie in der politischen Sphäre aufgehen. Es wird verhindert, daß eine Fabrik oder ein Stück Land sich absondert oder gar ein Konkurrenzelement in eine sich doch kommunal verstehende Gemeinschaft einführt.”
Die Kommunen sind unabhängig. Sie bilden Föderationen mit anderen Kommunen. Delegierte der Versammlungen vertreten die Entscheidungen der freien Kommunen und sind an sie gebunden. “Entscheidend für eine Realisierungschance des Föderalismus ist die Zusammenwirkung der Gemeinschaften – das bedeutet ein gegenseitiges Geben und Nehmen bei der Verwendung der Ressourcen und der Produkte und überhaupt bei der Entscheidung über einzuschlagende Wege.” Bookchin sieht den Föderalismus als eine notwendige Ergänzung der Dezentralisierung und Selbstversorgung der Kommunen.
Um dieses Ziel einer kommunalistischen Gesellschaft zu erreichen, soll im bestehenden kapitalistischen Gesellschaftssystem eine Gegenmacht gegen den Staat aufgebaut werden, die sich auf Versammlungen und konföderierte Räte stützt. In den Versammlungen wird über wichtige Entscheidungen im Stadtviertel und darüber hinaus gesprochen und abgestimmt. Diese Versammlungen sind mit moralischer Macht ausgestattet, wenn sich viele Menschen daran beteiligen. Sie versuchen, die offiziellen Entscheidungen des Stadtrates zu beeinflussen und Entscheidungsbefugnisse übertragen zu bekommen. In einer Übergangsphase von ”dualer Macht” versuchen sie, den Aufkauf ganzer Unternehmen durch die Stadt zu erreichen und die Stärkung des städtischen Besitzes an Wohnungen und Agrarflächen zu erreichen, um so eine kommunalisierte Wirtschaft vorzubereiten.
Bookchin meint, es müßten nicht nur alternative Institutionen wie Food Coops, selbstorganisierte ärztliche Versorgung usw. geschaffen werden, sondern es müsse zusätzlich eine öffentliche politische Sphäre überhaupt erst wieder geschaffen werden, in der alle zusammen diskutieren und entscheiden können. “Heute ist auch der Politik-Begriff so eng mit dem Staat verbunden, daß es für den Staat möglich geworden ist, sich als diesen politischen Raum auszugeben.”
Die Wiedergewinnung der Politikfähigkeit für alle als Ziel der Versammlungsdemokratie funktioniert nur vor dem Hintergrund der Entstehung eines veränderten Blickwinkels. So kritisiert er den neuen Lebensstil mit der Haltung des “ja nicht in gesellschaftliche Affären verwickelt zu werden”. Seine Nachbarschaft als mini-öffentlichen Raum zurückerobern, als selbstbestimmten lokalen Lebensraum, wäre das Ziel.
Schritte zur Veränderung …
Welche Anforderungen für eine Veränderung der Gesellschaft ergeben sich aus der Idee des libertären Kommunalismus?
Die Vorstellung einer Wiederbelebung der öffentlichen Sphäre in einer Versammlungsdemokratie erfordert Gemeinschaftseinrichtungen, Orte, in denen das Gespräch zwischen NachbarInnen unterschiedlicher sozialer Herkunft möglich ist: öffentliche Plätze, Versammlungshäuser, Gemeinschaftsküchen, Räume, an denen planerische Alternativen gemeinsam entwickelt, ausgestellt und diskutiert werden können. Um eine Beteiligung der MigrantInnen an den Entscheidungen zu ermöglichen, müßten Sprachkurse und ÜbersetzerInnen gefördert werden.
Die Informationsmöglichkeiten der Menschen über ihre Umwelt und das wirtschaftliche und soziale Geschehen in ihrem Stadtteil müßten stark verbessert werden. Dafür wäre es wichtig, den Zugang der Bevölkerung zu den Medien zu demokratisieren:
Die Möglichkeit für alle, Flugblätter, Zeitungen, Lokalfernsehen, Lokalradios zu nutzen, ist dabei eine Grundvoraussetzung. Der Zugriff auf Planungen und Planungsdaten könnte über öffentliche Internet-Cafés mit der dafür notwendigen pädagogischen Betreuung verbessert werden.
Die Stärkung der Selbstversorgung der Stadtteile wäre ein weiteres Ziel. Entgegen dem Trend zur Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen, wie z. B. der Stadtwerke, wäre die Stärkung des kommunalen Sektors der Wirtschaft entscheidend, wobei die kommunalen Einrichtungen wie z. B. Wohnungen, Energieversorgung, Müllentsorgung, öffentliche Kantinen anders als bisher in die reale Verfügungsgewalt der BewohnerInnen gestellt würden, statt in die Verfügung der städtischen und staatlichen Verwaltungen der PolitikerInnen.
Wir leben in einer Zeit, in der das Kapital keine Parteien mehr, sondern nur noch Standorte kennt. Es gibt kaum noch ernsthaften Widerstand gegen die völlige Aufgabe des öffentlichen Raumes und des öffentlichen Sektors. Da wirkt die Idee der Wiederbelebung der öffentlichen Sphäre erst einmal befremdlich. Das Nachdenken darüber, wie wir aus einer zerstörerischen Situation herauskommen können, macht aber einen Blick über den Sumpf der ”Real”politik hinaus notwendig und erfordert die Auseinandersetzung mit — nur auf den ersten Blick — ”utopischen” Gedanken.
Dietmar Gaida
Literatur:
Die Agonie der Stadt. Murray Bookchin 1996. Grafenau: Trotzdem Verlag