Männliche Jugendliche sind öfter gewalttätig!

Reißerisch verkündet das Solinger Tageblatt am 9. April 1998: “Studie: Junge Ausländer sind öfter gewalttätig”. Da klatschen viele Deutsche in die Hände: ”Na, haben wir es nicht immer schon gesagt? War doch klar, daß das alles Verbrecher sind!”

Wie kommt das Tageblatt zu dieser plakativen Überschrift, durch die sich ein Großteil der Bevölkerung bestätigt fühlt? Die Redakteurin, die den Artikel schrieb, bezog sich dabei auf eine Studie zur Jugendkriminalität in Solingen. Anhand von Daten aus der Polizei-lichen Kriminal-Statistik (PKS) und weiteren Erhebungen ist u.a. die Kriminalität und Gewaltbereitschaft von Jugendlichen im Alter von 8-20 Jahren untersucht worden. Die Ergebnisse, die dabei ermittelt wurden, stellen sich jedoch bei genauerer Betrachtung differenzierter dar, als es in dem Artikel zum Ausdruck kommt.

Heißt es doch in der Studie:”Die Ausländerkriminalität ist ein besonders sensibler und komplexer Bereich. Psychologischen Erkenntnissen zufolge ist das Individuum Mensch bestrebt, Komplexität zu reduzieren, d.h. einfache Erklärungen für schwierige Sachverhalte zu finden.”

Es überrascht daher vielleicht nicht, wie unsensibel hier wieder einmal mit einem strittigen  und spannungsgeladenen Thema umgegangen wurde, allerdings sollte von JournalistInnen schon ein wenig mehr Reflexionstalent und Feingefühl zu erwarten sein.

Bezugsgröße sind Tatverdächtige

Wird doch zunächst in der Studie betont (und dies tut die Redakteurin auch!), daß sich die vorliegenden Daten auf “Tatverdächtige” (TV) beziehen, also auf Jugendliche, die lediglich verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben. Dennoch werden die Verdächtigten in der Überschrift des Artikels zu Tätern, praktisch zu Verurteilten gemacht (“…sind öfter gewalttätig”).

Unkritisch wird auch die Fragestellung der Polizei-Projektarbeit hingenommen: ”Führt ein erhöhter Anteil jugendlicher Ausländer zu vermehrten oder auch bestimmten Straftaten?” Was soll der Quatsch? – Ich stelle die Gegenfrage: Führt ein erhöhter Anteil jugendlicher Deutscher, -oder besser noch- ein erhöhter Anteil männlicher Jugendlicher  zu vermehrten Straftaten? Scheint doch gerade der Punkt in der Studie viel prägnanter zu sein, der sich mit dem Anteil der weiblichen im Vergleich zu den männlichen Tatverdächtigen beschäftigt. “In Solingen stieg der Anteil der unter 21jährigen Frauen von 1992 bis 1996 von 3,8% auf 5,1% an den TV zu den ausgewählten Delikten. Solingen liegt damit unter dem Landesmittel von 9,2 %.. Damit wird bestätigt, daß diese Gewaltdelikte weitgehend eine Domäne der männlichen Jugend sind.”

Warum lautete die Überschrift des Tageblatt-Artikels nicht: Studie: “Männliche Jugendliche sind öfter gewalttätig”? Als Reaktion auf solch einen Titel ist eben nur ein müdes Lächeln zu erwarten und nicht etwa die Forderung nach Abschiebung aller gewalttätig auffallenden männlichen Jugendlichen.

Der Focus ist auf die “Ausländer” gerichtet, auf die sogenannten Nichtdeutschen, die Jugendlichen ohne deutschen Paß. Die fehlende deutsche Staatsbürgerschaft wird als Indiz für besondere Auffälligkeit genommen. Dabei wird ausgeklammert, daß viele ausländische Jugendliche in Deutschland geboren wurden, ihre Eltern bereits hier geboren wurden, sie selbst vielleicht nie das Land gesehen haben, aus dem ihre Eltern und Großeltern stammen.

Rassistische Vorurteile werden bestärkt

Mit dem Tageblatt-Artikel wird suggeriert, daß “junge Ausländer” aufgrund ihrer spezifischen kulturellen Identität eher zur Gewalt neigen. Hier und in der Studie werden die ausländischen  und besonders die türkischen Familien pauschal als patriarchal strukturiert, mit niedrigem Bildungsniveau und grundsätzlich anderer Gewaltakzeptanz analysiert. Das Bild von den ‘Fremden’, die kulturell anders sind und im “ständigen Konflikt zwischen dem traditionellen Elternhaus und den Erwartungen der modernen Gesellschaft stehen” (ST), wird hier aufrechterhalten.

Interessanterweise wird dann an anderer Stelle in der Studie dargelegt,”daß nicht die Zugehörigkeit zu einer Minorität bzw. eine Staatsangehörigkeit wesentliche Ursache für kriminelles Verhalten ist, sondern die Lebenslagen junger Menschen”. Und stand da nicht noch irgendwo…, ach hier: “Belegt ist dabei die Erkenntnis, daß Ausländer mit Integrationschancen an der Kriminalitätsbelastung nicht mehr beteiligt sind als ihre deutschen Altersgenossen”. Wird hier doch deutlich, daß die Lebenslagen Jugendlicher entscheidend für ihr Verhalten sind und nicht etwa das bloße ‘Ausländersein’.

Ausländerbeauftragte Agnes Heuvelmann

Auch die Ausländerbeauftragte Agnes Heuvelmann steht dem statistischen Material kritisch gegenüber. Ihrer Meinung nach werden in der Studie (“sicher unabsichtlich”) statistische Bezugsgrößen durcheinandergeworfen. Bei genauerer Betrachtung der ermittelten Werte kommt man ihrer Meinung nach nicht zu dem Ergebnis, daß die Kriminalität ausländischer Jugendlicher überproportional ist. “Daß ein höherer Anteil ausländischer Jugendlicher auch eine höhere Kriminalität bedeutet, ist für mich nicht bewiesen”. In diesem Zusammenhang verweist Frau Heuvelmann auch auf zahlreiche Untersuchungen, die eben diesen Kausalschluß widerlegen. Außerdem betont sie, daß es in der Bevölkerung ein höheres Anzeigeverhalten gegenüber Jugendlichen und ‘Ausländern’ gibt. “Damit sind jugendliche Ausländer natürlich besonders betroffen”.

Thema nicht verschweigen

Sie betont jedoch: ”Ich finde es grundsätzlich in Ordnung, über die Kriminalität sozial ausgegrenzter Jugendlicher zu berichten. Das Thema darf nicht verschwiegen werden”. Von den Ausländern zu sprechen, beurteilt sie jedoch als problematisch. “Es sind Jugendliche, die hier geboren und erzogen worden sind”. Das Bemühen um Integration auf der einen Seite und die rechtliche Situation, Visapflicht, fehlende Ausbildungsplätze und fehlende Partizipationsmöglichkeiten insbesondere für Flüchtlinge und Asylbewerber lösen ihrer Ansicht nach einen Gegeneffekt aus. Das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, kann dann zur Cliquenbildung und zu aggressivem Verhalten führen. Arbeitslosigkeit oder das Wohnen in schlechter Lage dürfen ihrer Meinung nach jedoch nicht gewalttätiges Verhalten legitimieren.

Frau Heuvelmann erhofft sich, daß es zu einer positiven Tendenz im Bereich der Jugendarbeit kommt und in Zukunft vermehrt ‘ausländische’ SozialarbeiterInnen eingestellt werden, die den Kontakt zu Jugendlichen in kritischen Lebenslagen herstellen.

Journalistische Verantwortung

Auch seit 1993 scheint sich in der Medienberichterstattung vom Solinger Tageblatt nicht viel geändert zu haben. Leichtfertig werden Überschriften und Artikel formuliert, mit denen die Beteiligung sogenannter ‘Ausländer’ an kriminellen Handlungen besonders hervorgehoben wird. Die Kriminalisierung von MigrantInnen wird vorangetrieben und latenter Rassismus weiter bestärkt, in dem das Bild von der Unvereinbarkeit kultureller Differenzen aufrechtgehalten wird.

Fragt sich nur, wann sich endlich diese Art von Berichterstattung ändert?

Eva Thomas