Das Dilemma der Grünen

Ein Kommentar von Frank Knoche über die KoalitionsvereinbarungDie Grünen haben vieles bewirkt. Umweltbewußtsein ist zu einem Bestandteil des Alltagsbewußtseins geworden, das keine Institution und Organisation in diesem Lande mehr ignorieren kann. Die fest betonierte Parteienlandschaft der Nachkriegszeit wurde nachhaltig aufgebrochen und verändert, was keine links von der SPD stehende Kraft bis dahin erreicht hatte. Der jetzt gewählte Bundestag ist von seiner Zusammensetzung her, im alten Schwarz/Weiß-Rechts/Links-Schema gesehen, der am weitesten links stehende in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Frage ist nur, was kommt dabei heraus und wem nützt das?

Nach sechzehn Jahren “Kohl” und wenigen Wochen “Schröder/Fischer” klingen die vielerorts angestimmten Grabgesänge allzusehr nach verfrühten Unkenrufen derjenigen, die es schon immer besser wußten. Selbst die neuen Regierungen bisher zugestandene 100-Tage-Schonfrist soll, wenn es nach den Arbeitgeberverbänden ginge, diesmal nicht gewährt werden. Obwohl die Richtung stimmt und eine Vielzahl von positiven Veränderungen angepackt  wurden  ( Rentenniveausenkung, Rücknahme einiger Eigenbeteiligungen im Krankheitsfall, Kindergelderhöhung, Absenkung des Steuersatzes für die unteren Haushaltseinkommen usw.), sind die bisherigen Reformen viel zu halbherzig und kleinmütig, so daß sie zu versanden drohen, ohne etwas zu bewirken. Dies gilt vor allem für die Ökosteuerreform, welche ohne Ausnahmen den Endverbraucher, die Arbeiter- und Angestelltenhaushalte erst mal trifft, während – dank SPD –  der Großteil der Wirtschaft davon befreit wird. Das “Bündnis für Arbeit” wird mit Lohnverzichtsforderungen eröffnet. Die Verbesserungen beim Staatsangehörigkeitsrecht erscheinen angesichts dessen, was sich in der Kohl-Ära an Reformen angestaut hat, zunächst als gewaltiger Fortschritt. In Wirklichkeit handelt es sich, 127 Jahre nach Gründung des ersten deutschen Staates und nach 85jähriger Gültigkeit dieses ethnisch gesäuberten Gesetzes, mehr um eine längst überfällige Anpassungsleistung an die veränderte gesellschaftliche Realität, als um ein humanistisches Konzept für eine weltoffene Gesellschaft. Otto Schilys “Das Boot ist voll”- Politik zeigt die Richtung an. Das deutsche Asylrecht wird weiter zu den repressivsten in der Welt gehören. Der verhängnisvolle “Asylkompromiß” einer großen Koalition von CDU/CSU, SPD und FDP von 1993 bleibt bestehen, die Härtefallklausel soll “angemessen gestaltet”, das Ausländergesetz “mit Rücksicht auf internationale Vereinbarungen überprüft” werden.

Innenpolitisch entsteht der Eindruck, daß Otto Schily sich am ersten Wehrminister der Weimarer Republik, dem Sozialdemokraten Gustav Noske (“Einer muß der Bluthund werden …”), orientiert. Der “große Lauschangriff” wird nicht zurückgenommen. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist zwar politisch eingeleitet, wird jedoch praktisch auf Jahrzehnte hinausgeschoben. Hier fällt die Koalitionsvereinbarung sogar hinter die gemeinsame programmatische Beschlußlage beider Regierungsparteien zurück. Während die Grünen vor der Wahl noch den Sofortausstieg forderten, hatte sich die SPD schon vor Jahren auf einen Ausstieg binnen zehn Jahren festgelegt. Natürlich ist es ein Fortschritt, daß Jürgen Trittin und nicht Angela Merkel der zuständige Minister ist. Nur bleibt zu befürchten, daß der ebenso scheitern wird wie Bärbel Höhn in Sachen Garzweiler II. Am schlimmsten jedoch ist der Einknick in Sachen Gentechnologie. “Die neue Bundesregierung wird die verantwortbaren Innovationspotentiale der Bio- und Gentechnologie systematisch weiterentwickeln”, heißt es in der Koalitionsvereinbarung. Alle dann folgenden Einschränkungen bzgl. der Gefahren dieser “modernen” Technologie sind mehr schöne Worthülsen statt reale Daumenschrauben für die ungehemmte Fortschrittsgläubigkeit der GenTech-Industrie. In Sachen Abrüstung, Frieden und Entspannung bleibt die NATO “unverzichtbares Instrument für die Stabilität und Sicherheit Europas”, und die “enge und freundschaftliche Beziehung zu den USA beruht auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen”. Die Grünen, welche einst die Gewaltfreiheit als eines von fünf ehernen Prinzipien auf ihre “Fahne” schrieben, sind auf dem besten Weg, selbst zur “Kriegspartei” zu werden. Es ist noch nicht allzu lange her, als Volker Rühe versprach, daß deutsche Soldaten niemals in ehemaligen Kriegsgebieten (II. WK) außerhalb Deutschlands kämpfen würden. Heute hätten selbst die Grünen wenig dagegen, wenn deutsche Piloten ihre Bomben dort abwerfen würden, wo es schon ihre Großväter getan haben. Statt “Frieden schaffen ohne Waffen” und “Schwerter zu Pflugscharen” heißt es jetzt zumindest in Sachen Kosovo: “Frieden schaffen mit NATO-Waffen” und  nach dem Prinzip, wonach der Zweck die Mittel heiligt, soll das Schwert jetzt für die Durchsetzung der Menschenrechte im Sinne westlicher “Wohlstandsgesellschaften” (Menschenrechtsimperialismus!?) in die Hand genommen werden. Die Frage ist nur, warum im Kosovo und nicht in Kurdistan? In der Türkei jedenfalls wird der NATO-Partner mit Hilfe deutscher Waffen seinen Völkermord fortsetzen können, ohne daß Außenminister Fischer oder Verteidigungsminister Scharping dagegen ähnlich starke Worte finden wie gegenüber Jugoslawien. Deutschland wird weiter zu den führenden Waffenhändlern und Rüstungsexporteuren dieser Welt gehören.

Was wäre, wenn …

Trotz alledem bleibt die entscheidende Frage: Was wäre, wenn die Grünen nicht in die Regierung eingetreten wären? Wie sähe eine Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und CDU, zwischen SPD und FDP oder eine absolute Mehrheit der SPD aus? Niemand sollte die Grünen dafür schelten, daß sie in den Verhandlungen mit der SPD nicht ihr Parteiprogramm durchgesetzt haben. Es gibt einige gute Gründe, die Kritiker von links milder stimmen sollten. Dem Verband der Chemischen Industrie (“Bei der Ökosteuer liegt die Schmerzgrenze für die Chemie bei Null”) und BDI-Chef Hans-Olaf Henkel gehen selbst die Minireförmchen schon zu weit. Sie drohen mit Verlagerung und Arbeitsplatzabbau wegen Ökosteuer und Einschränkungen für die Gentechnologie. Der Ausstieg aus der Atomenergie muß nicht nur den mächtigen Energiekonzernen, die mit ruinösen Entschädigungsforderungen drohen, sondern auch der SPD abgerungen werden. Und ein Ausstieg aus der NATO ist im Alleingang auch illusorisch. Wer glaubt, daß eine PDS als Ausgleich für eine Regierungsbeteiligung solche Kröten nie schlucken würde, sollte sich seine Illusionen bewahren und die Hose weiter mit der Kneifzange zumachen.

…die Pferde nicht an die Tränke wollen?

Das Dilemma der Grünen besteht darin, daß sie dabei sind, ihr ursprüngliches alternatives Profil nun gänzlich auf dem Altar der Regierungsbeteiligung zu opfern. Das neue Profil: Ohne uns wäre alles noch schlimmer gekommen! – hat die mittige Volkspartei SPD als das ewige kleinere Übel schon für sich besetzt. Im Gegensatz zu früher kann sich die Partei Bündnis 90 / Die Grünen heute nicht mehr auf starke außerparlamentarische Bewegungen wie etwa die Anti-AKW-Bewegung stützen. In Sachen Genmanipulation ist dies eventuell schon gar nicht mehr erwünscht, obwohl hier eine Bedrohung für Mensch und Natur besteht, die mindestens genauso gefährliche Folgen haben könnte wie die Atomtechnologie. Ein Grund mehr, die neue rosa/grüne Regierung mit entsprechenden Forderungen und Aktivitäten unter Druck zu setzen. Grüne und Bürgerinitiativen sind schon länger nicht mehr zwei Seiten einer Medaille. Den beiden Regierungsparteien ist nur noch zu helfen, wenn sie außerparlamentarisch dahin gedrückt werden, wo sie selbst einmal hin wollten. Und genau hier besteht der große Vorteil der neuen Regierung: Sie ist gegenüber sozialen, ökologischen, antimilitaristischen und antiimperialistischen Forderungen druckempfindlicher als die alte Koalition. Wenn die Pferde also aus eigenem Antrieb heraus nicht mehr zur Tränke laufen wollen, müssen sie eben dahin getragen werden.

“Wir müssen gesellschaftlichen Druck als zusätzliche Unterstützung mobilisieren. Wir sind die Partei, die wie keine andere mit Bürgerinitiativen und gesellschaftlichen Organisationen zusammenarbeitet. Das ist jetzt doppelt wichtig. Denn gesellschaftlicher Druck – aber bitte nicht nur auf uns gerichtet – kann gerade da helfen, wo die Koalitionsvereinbarung nicht alle unsere Wünsche erfüllt hat.”

Gunda Röstel – Sprecherin des Bundesvorstandes von Bündnis 90/ Die Grünen.