Um ihren verstorbenen Onkel in seiner Heimatstadt traditionsgemäß beerdigen zu können, reiste Mina Cetin zusammen mit ihren Eltern, ihrer Nichte Cané Keser und neun weiteren Verwandten etwa eine Woche vor dem Putschversuch nach Ovacik. Ovacic ist die Kreisstadt eines gleichnamigen Landkreises in der Provinz Tuncelli im Osten der Türkei.
Nach Abschluss der Trauerfeierlichkeiten sollte es am Freitag, den 15. Juli zurück nach Deutschland, nach Solingen gehen. Nur Minas Eltern wollten noch einige Zeit in Ovacik verbringen. Mina, Cané und die die anderen Familienmitglieder machten sich gegen 17 Uhr mit dem Bus auf den Weg zum Flughafen in Elazig, was normalerweise etwas über zwei Stunden dauert. Doch die offizielle Straße war zu diesem Zeitpunkt bereits vom Militär gesperrt. Die Soldaten teilten ihnen mit, dass Militärstützpunkte in der Region angegriffen worden seien.
So waren sie gezwungen den Weg über die Bergstraße zu nehmen, die sich bis zu einer Höhe von 1.800 Metern hinauf schlängelt. Eine eigentlich wunderschöne Strecke, wenn man die Landschaft genießen möchte – aber die Reisegruppe wurde immer wieder von Militärkontrollen angehalten und befragt. Und immer wieder hörten sie Explosionen und sahen Rauchwolken aufsteigen, was allen Angst machte.
Nach fünf Stunden Fahrt kam die Reisegruppe endlich am Flughafen von Elazig an.
Mina und ihre Familie hatten bereits eingecheckt und die Sicherheitskontrollen passiert, als das Flughafenpersonal plötzlich alle dazu aufrief, den Flughafen sofort zu verlassen. Ein Militärputsch sei im Gange und der Flughafen deshalb ab sofort gesperrt. Was für ein Schock! Die Aufregung unter den Passagieren war groß – und Mina, Cané und ihre Familie bekamen jetzt noch mehr Angst. Wo sollten sie hin in dieser fremden Stadt? Nach Ovacik gab es in dieser Situation kein Zurück mehr. Zudem gehören sie zu einer ethnischen Minderheit, die der türkischen Regierung schon seit langem ein Dorn im Auge ist.
Auf Minas verzweifeltes Hilfegesuch organisierte schließlich eine Flughafenmitarbeiterin einen Bus, der alle verhinderten Passagiere in ein einige Kilometer entferntes Hotel brachte. Dort bekamen sie zwar Zimmer, wurden aber gleichzeitig mit einer Ausgangssperre belegt.
Um 00:37 erhielt auch Cané, die eine türkische Sim-Karte benutzte, zu ihrer Überraschung eine SMS von Präsident Erdogan persönlich: „Wir bitten das ganze Volk für die Demokratie auf die Straßen zu gehen – Die türkische Regierung“. Doch blieben die meisten Bewohner von Elazig nach Beobachtungen von Mina und Cané in ihren Häusern. Sogar das Licht machten viele Bewohner aus. Nur ein paar fanatische Anhänger Erdogans waren auf den Straßen zu sehen und zu hören.
Mina und Cané blieben drei Tage in ihrem Hotelzimmer. An Schlaf war nicht zu denken, denn sie hatten die Befürchtung, dass es jeden Moment an der Türe klopfen und sie verhaftet werden könnten. Im Hotel gab es viele schwer bewaffnete Sicherheitsleute. Ebenso befürchteten die festsitzenden Reisenden, von den Geheimdienstmitarbeitern des MIT beobachtet zu werden, mit deren Anwesenheit sie rechnen mussten.
Kindheitserinnerungen stiegen bei Mina auf: am 12. September 1980 kam es in der Türkei zum letzten Militärputsch. Auch damals gingen bürgerkriegsähnliche Zustände voraus. Auf den Putsch folgten Verhaftungen, Folterungen und Todesurteile. Damals gab es noch die Todesstrafe – sie wurde erst 2004 abgeschafft.
Ihre Eltern hatten in Vorahnung auf das Geschehen schon im August Mina, damals zehn Jahre alt, und ihren Cousin nach Deutschland geholt.
1994 kam es dann unter der neuen Regierung von Tansu Ciller zu Bombardierungen mit Brandfässern auf viele Dörfer in dem kurdischen Gebiet im Großraum Tunceli, zu dem auch Ovacik gehört. Fast 2.000 Dörfer im Südosten der Türkei wurden damals durch das Militär gewaltsam geräumt. Viele Menschen wurden getötet oder aus ihrer Heimat in die großen Städte vertrieben. Das alles mitzuerleben war Mina damals erspart geblieben.
Nach 36 Jahren, die sie mittlerweile schon in Solingen lebt, war Mina jetzt unerwartet mitten in den nächsten Militärputsch hinein geraten. Ihre Nichte Cané, bereits in der 3. Generation in Solingen geboren, fühlte sich von den Ereignissen völlig überrollt.
Am Sonntag hielt Mina es nicht mehr aus. Zusammen mit vier anderen verhinderten Fluggästen fuhr sie mit einem Taxi zum Flughafen, der jedoch fast völlig verwaist war. Dort bekamen sie die Auskunft, dass der Flughafen, wie auch alle anderen im Umkreis von 200 km, gesperrt sei. Auf Minas Drängen bekamen sie von einer freundlichen Flughafenmitarbeiterin schließlich die Zusage, dass die Reisegruppe verteilt auf unterschiedliche Flüge vielleicht am Montag Plätze bekäme. Allerdings würde es mehrere Zwischenstopps geben.
Mina und die junge Studentin Cané bekamen schließlich einen Platz, der sie mit einem Anschlussflug vom Atatürk-Flughafen in Istanbul nach Deutschland brachte.
Auf dem großen Flughafen in Istanbul konnten sie jede Menge schwer bewaffnete Sicherheitskräfte beobachten, und überall sahen sie Einschusslöcher und andere Kampfspuren des gescheiterten Putschversuchs.
Viele Informationen über das Geschehen hatten sie bis dahin nicht bekommen. Der Zugriff auf soziale Netzwerke wie Facebook und WhatsApp wurde immer wieder gestört, ebenso wie die Telefonverbindungen. Auch Nachrichten gab es nur bruchstückhaft. Ein dicker Stein fiel Mina vom Herzen, als sie endlich in der Maschine nach Deutschland saßen.
Mina und ihre Familie gehören zu der Minderheit der Zaza – alle sind Aleviten. Ihre Vorfahren stammen aus dem persischen Raum, dem heutigen Iran.
Minderheiten wie die Kurden, Aleviten, Zaza und Armenier, die in dem Gebiet um Tunceli in der östlichen Türkei leben, wurden schon immer ausgegrenzt, unterdrückt und auch vertrieben. Was vor dem Putsch noch zu den illegalen Maßnahmen gehörte, ist durch den Putsch legal geworden – denn ein Ausnahmezustand erlaubt doch vieles.
Den Putsch verurteilt Mina, für dessen Umsetzung anscheinend ahnungslose Soldaten mit dem Auftrag „Manöver-Übungen“ abzuhalten, losgeschickt wurden. Sie ist entsetzt darüber, dass dafür mehr als 260 unschuldige Menschen sterben mussten und über 1.000 verletzt wurden. Sie macht sich aber auch Sorgen um die vielen tausend Verhafteten.
Der nach dem Putsch ausgerufene Ausnahmezustand erlaubt eine Inhaftierung von bis zu 30 Tagen ohne Rechtsbeistand und ohne Kontakt zu den Angehörigen. Auch die erst 2004 abgeschaffte Todesstrafe ist wieder im Gespräch.
Amnesty International und auch andere Organisationen kritisieren bereits öffentlich die menschenunwürdigen Bedingungen der Inhaftierten und sprechen über sichtbare Anzeichen von Folter bei den Gefangenen. Auch die Entlassungen und Verhaftungen an Schulen, Hochschulen, in der Justiz, von Beamten und Journalisten bereiten ihr große Sorgen: alles, was nicht in den Regierungskurs passt, wird aussortiert.
In einem Gespräch frage ich Mina, welche Veränderungen der Putsch und die sich daran anschließende Entwicklung für sie, ihre Familie und die Alevitische Gemeinde in Solingen bringt.
„Spannungen und Differenzierungen gab es schon immer zwischen den verschiedenen in Solingen lebenden Gruppen mit türkischem Migrationshintergrund. Schon vor langer Zeit haben sich Parallelgesellschaften entwickelt. Vielleicht wird das jetzt für alle offensichtlicher …“ Dazu zählt für sie als Beispiel die von der UETD organisierte Pro-Erdogan-Großkundgebung in Köln. Stellvertretender Vorsitzender der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) ist der Solinger Rechtsanwalt Fatith Zingal, der offen die Interessen der AKP vertritt.
Aber auch die faschistischen „Grauen Wölfe“ waren bei der Kundgebung vertreten. Die Menge brüllte immer wieder Alalhu Akbar“ und „Wir sind Deutschland“.
Minas sieht ihren Lebensmittelpunkt hier in Deutschland – deshalb fühlt sie sich von der derzeitigen Entwicklung in der Türkei nicht so direkt betroffen. Trotzdem macht sie sich große Sorgen, nicht nur um ihre Angehörigen und Freunde, die noch in der Türkei leben. Sie macht sich Sorgen um alle Menschen in der Türkei und um deren Zukunft. Mina liebt die Türkei mit ihrer kulturellen Vielfalt, der wunderschönen Landschaft und dem bunten Miteinander. Doch die Hoffnung auf eine positive Entwicklung hat sie aufgegeben – statt Fortschritt erwartet sie jetzt nur noch Rückschritt – auf vielen verschiedenen Ebenen.
Aber sie hat noch Hoffnung, dass der Konflikt nicht auch in Deutschland ausgetragen wird:
„Meine Idealvorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft ist die, in der der Mensch zählt – unabhängig von Religion, Herkunft oder Hautfarbe, und in der die Menschen nicht durch politische und wirtschaftliche Macht instrumentalisiert werden.“
Birgit Correns