Die zehnte tacheles und der fünfte Jahrestag des Brandanschlages

Ihr haltet die zehnte Ausgabe der tacheles in den Händen. Ein bißchen stolz sind wir schon, daß wir es mit unserer Freizeitredaktion geschafft haben, in der großgewordenen Kleinstadt Solingen im (ca.) vierteljährlichen Rhythmus als non-profit-Projekt zu erscheinen und die Finger auf ein paar offene Wunden zu legen. Doch die Geschichte der tacheles ist älter: Kurz nach dem Brandanschlag vom Mai 93, der eine Zäsur im Leben Solingens war, entstanden zwei Stadtzeitungen in Solingen. Plötzlich war der braune Bodensatz, der auch in unserer Stadt existiert, offenbarer denn je geworden. Wie viele SolingerInnen in dieser Zeit empfanden die ZeitungsmacherInnen die Notwendigkeit, etwas dagegen zu tun. Im November 1993 erschien dann die erste Ausgabe einer unabhängigen Stadtzeitung in Solingen nach dem Dahinscheiden des Solinger Volksblattes im Jahr 1985. In einem Blatt erschienen die Tarantella (herausgegeben von der Pressegruppe des Solinger Appells) und die espada, die sich zusammenschlossen, um im November 1995 die erste tacheles herauszubringen.

Eine wichtige Ausgangsmotivation für das Zeitungsmachen, der Kampf gegen Rassismus und Faschismus, bestimmt auch heute noch einen Schwerpunkt der Zeitung. Was hat sich in dieser Frage seit dem Brandanschlag getan? Die politischen Forderungen, die nach Solingen in der BRD diskutiert wurden, die politische und soziale Gleichstellung der ImmigrantInnen, die doppelte Staatsbürgerschaft, die wirkliche Bekämpfung der Rechtsextremisten, die Beendigung des rassistischen Diskurses der allermeisten PolitikerInnen, die Rücknahme des ”Asylkompromisses” – der faktischen Abschaffung des Asylrechtes – , sie alle sind ihrer Umsetzung keinen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil, die Probleme durch die soziale Deklassierung immer größerer Teile der Bevölkerung werden gezielt auf den Rücken der in der BRD lebenden ”AusländerInnen” geladen. Nazis haben Konjunktur wie lange nicht mehr, nicht nur in Solingen sondern bundesweit.

Sicherlich haben die vielen SchülerInnen-Projekte, darunter die ”Schule ohne Rassismus” (Albert-Schweitzer-Schule), die Aktivitäten von SOS-Rassismus, Öffentlichkeit gegen Gewalt, Solinger Appell und der Antifa, um nur einige zu nennen, einiges getan, um das Bewußtsein der Menschen in Solingen gegen den Rassismus zu schärfen, die Nazis in dieser Stadt kleinzuhalten und Flüchtlingen Einzelfallhilfe zu geben. Aber sie stehen gegen ein Klima, das allzusehr von denen beherrscht wird, die bei jeder Erinnerung an den Brandanschlag sagen ”Ist es denn nicht langsam mal gut?” Nein, es ist überhaupt nicht gut, nicht mal besser und deshalb ruft die tacheles-Redaktion wie viele andere Gruppen auch zu der Demonstration gegen Naziterror und Rassismus am 30. 5. in Solingen auf.

Die veröffentlichte Meinung spielt eine wichtige Rolle für das Klima in einer Stadt. Wenn das ST kurze Zeit vor dem Brandanschlag mit der Schlagzeile ”Die Bombe platzte im Sozialausschuß” die Pläne der Verwaltung kommentierte, eine größere Anzahl von AsylbewerberInnen in einem Gebäude unterzubringen und das ST im Mai 97 mit der Schlagzeile ”Ausländische Jugendliche sind öfter gewalttätig” aufmacht, zeigt dies, daß die Verantwortung der Presse teilweise immer noch nicht wahrgenommen wird.

In der kurzen Geschichte der tacheles war auch der Gewinn des Prozesses, den G. Kissel gegen uns anstrengte, ein großer Erfolg. Seit dem 9. 9. 97 darf der größte Bauunternehmer Solingens ein ”aktiver rechtsextremistischer Drahtzieher, Volksverhetzer und Auschwitzleugner” genannt werden. Wir möchten uns nochmals bei allen bedanken, die uns dabei unterstützt haben. Aber auch dies hat nicht ausgereicht, um den Oberbürgermeister Solingens und die meisten anderen Honoratioren davon abzuhalten, Kissels Bauten einzuweihen, mit ihm auf Empfängen der Kreishandwerkerschaft zu diskutieren …

Soll mensch deshalb verzweifeln? Nein, es wird immer wichtiger, sich der Rechtsentwicklung und auch dem Sozialabbau, der gerade mit der aktuellen Streichliste des Kämmerers einen neuen Höhepunkt erlebt, entgegenzustellen. Es gibt in dieser Stadt einige gute Ansätze, und diese brauchen dringend Unterstützung. Womit wir wieder bei der tacheles wären. Nutzt die tacheles als ein Mittel gegen Rassismus, Sexismus, Sozialabbau, Umweltzerstörung … Schreibt für uns, macht in der Redaktion mit, unterstützt uns mit Abos und Anzeigen – damit wir nach den nächsten 10 Ausgaben einen optimistischeren Ausblick schreiben können!

Eure tacheles-Redaktion