Zwangsarbeit für SozialhilfeempfängerInnen in Solingen?

Firmenpleiten und Rationalisierungen führen zu verstärkterArbeitslosigkeit und erhöhen die Anzahl der Sozialhilfe-empfängerInnen. In dieser Situation plant nicht nur der Staat sondern auch die Stadt Solingen, bei den SozialhilfeemfängerIn-nen Kosten einzusparen.

In der Sitzung des Sozialausschusses vom 11. 11. 1997 beschlossen SPD und Grüne bei Nichtmitwirkung von CDU und FDP die Zustimmung zu einer Verwaltungsvorlage des Sozialamtes zum städtischen Programm “Arbeit und Qualifizierung für arbeitslose Sozialhilfeempfängerinnen”.

Ursprünglich gedacht als verbesserte Vermittlung von Sozialhilfeempfängerinnen u. a. durch Lohnzuschüsse für die Arbeitgeber, entpuppt sich das Konzept als Infragestellung der Existenzsicherung durch Sozialhilfe.

Nach dem Beschluß sollen die ca. 5400 Solinger SozialhilfeempfängerInnen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren aufgefordert werden, dem “Stadtdienst Hilfen zur Arbeit” zusätzlich zu den bei der Beantragung von Sozialhilfe geforderten Unterlagen weitere Papiere zur Verfügung zu stellen: Über die “Art der Berufsausbildung(en) und die Zeit(en) der Berufsausübung, die Art und Dauer einer anderen Tätigkeit, die Art von beruflichen und anderen Qualifikationen (wie z. B. Führerschein, Schweißerpaß etc.)” Wer hierbei nicht rechtzeitig mitmacht, hat schon ausgespielt: “Solange die Unterlagen nicht vollständig sind, kriegen die keinen Pfennig” sagte Sozialdezernent Drost – selbst dabei noch in der Manier des gutmütigen Großväterchens auftretend – in der Sozialausschußsitzung.

Bei Weigerung: „Kürzung oder Einstellung der Sozialhilfe“

Der zuständige Sozialarbeiter soll dann für die Betroffenen Verträge mit Arbeitgebern abschließen. Diese müssen nicht den Tarifverträgen entsprechen: “Bei nachweisbaren Minderleistungen ist es aufgrund von Einzelvereinbarungen möglich, geringere als die tarifvertraglichen Vergütungen zu zahlen. (…) Weitere Ausnahmen von generellen Regeln müssen im Einzelfall vereinbart werden.” Weigern sich die Betroffenen, die für sie ausgesuchte Tätigkeit zu den Konditionen “ihres” Sozialarbeiters anzutreten, wird ihnen kurzerhand das Lebensminimum entzogen: “In solchen Fällen sind durch die Kürzung oder auch Einstellung der Sozialhilfe die Hilfsempfänger-Innen zur Arbeitsaufnahme anzuhalten.” Damit diese Konsequenz jedoch nicht durch etwaiges Mitleid eines städtischen Beamten verzögert wird, ist in der Vorlage gleich noch ein Automatismus zur Sozialhilfekürzung eingebaut: “Liegt innerhalb einer angemessenen Zeit von zwei Wochen eine Rückmeldung des Hilfeempfängers bzw eines Maßnahmeträgers/Arbeitgebers nicht vor, so wird der Hilfeempfänger an die Erfüllung seiner Pflichten bzw. der mit ihm getroffenen Absprachen erinnert. Bleibt auch das erfolglos, wird diese Tatsache dem Sachgebiet Hilfe zum Lebensunterhalt gemeldet, das dann die entsprechenden Maßnahmen, wie z. B. Kürzung der Sozialhilfe etc., einleitet.”

Es sollen nur solche Tätigkeiten vermittelt werden, die der Stadt im Endeffekt Geld sparen. Der Sozialdezernent dazu in der Sitzung: “Es findet nichts statt, was sich für die Sozialhilfe nicht rechnet.” Es versteht sich, daß unter diesen Voraussetzungen kaum Geld für die notwendige Qualifizierung der SozialhilfeempfängerInnen ausgegeben werden soll.

Die Frage des grünen Ausschußmitgliedes Nasser Firouzkhah, was denn mit der Familie passiere, wenn z. B. dem Vater die Sozialhilfe eingestellt würde, wurde von Sozialamtsleiter Mertens in der Ausschußsitzung so beantwortet: “Wenn der Vater keine Sozialhilfe mehr kriegt, muß der Sozialhilfeträger darauf achten, daß der Rest der Familie darunter nicht leidet.” Das wird spaßige Dialoge am Küchentisch der SozialhilfeempfängerInnen zur Folge haben. Etwa so: “Mama, darf der Papa auch ein Brötchen haben?” “Nein, der soll erst mal arbeiten gehen!”

Festzuhalten bleibt: Die Verpflichtung von SozialhilfeempfängerInnen zur Annahme einer von ihnen nicht gewünschten Arbeit zu u.U. untertariflichen Löhnen bei Androhung des Entzugs des zum Lebensunterhalt notwendigen Minimums (der Sozialhilfe = ca. 450 DM plus Wohnungskosten) muß als Zwangsarbeit bezeichnet werden. Dieses Vorgehen erinnert stark an das unselige “Wer nicht arbeitet braucht auch nicht essen!”. Die nach dem Gesetz mögliche Androhung der Kürzung der Sozialhife wird hier zum Automatismus systematisiert, um bei den Ärmsten der Armen Geld einzusparen. Wieder einmal sind AusländerInnen besonders betroffen, machen sie doch ca. 25% der SozialhilfeempfängerInnen aus. Das Vorurteil gegen Sozialhilfe-empfängerInnen wird noch verstärkt, denn alle, die noch immer Sozialhilfe bekommen, hätten ja eine noch schlechtere Arbeit unter noch unterbezahlteren Bedingungen annehmen können. Fraglich ist, ob der Entzug des Lebensminimums mit Artikel 1 des Grundgesetzes “Die Würde des Menschen ist unantastbar” zu vereinbaren ist, denn wo bleibt die Würde wenn der Mensch hungert?

Auch die ArbeitsplatzbesitzerInnen geraten unter Druck

Diese Vorlage verkehrt aber auch eine gute Idee in ihr Gegenteil. Ein Programm zur Beschäftigung und Qualifizierung der Sozial-hilfeempfängerInnen ist sinnvoll und notwendig, aber es muß unter der Bedingung absoluter Freiwilligkeit der TeilnehmerInnen stattfinden. Bei 7200 Arbeitslosen und 5400 SozialhilfeemfängerInnen in Solingen wird ein solches Programm jedoch nur einem kleinen Teil der Betroffenen helfen können. Alle anderen unter die Androhung von Zwangsarbeit zu setzen, greift aber nicht nur deren Würde an: Müssen wir uns nicht darauf einstellen, daß für über die Hälfte der Bevölkerung bei anhaltenden Arbeitsplatzverlusten durch Rationalisierungen in den nächsten Jahren ebenfalls das Schicksal eines Sozialhilfeempfängers als realistische Drohung im Raum steht? Mit der Drohung, im Falle eines Falles eben untertariflich bezahlte Zwangsarbeit leisten zu müssen, wird aber ein noch schärferer Druck auf die Noch-”ArbeitsplatzbesitzerInnen” ausgeübt, immer weiterem Reallohnabbau und anderen Zumutungen zuzustimmen.

Eine Hoffnung bleibt am Schluß doch noch: Die erweiterte Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen beschloß am 19. 11. einstimmig, daß alle Androhungen von Zwangsmaßnahmen aus dem Programm entfernt werden sollen. Mit der SPD soll in diesem Sinne gesprochen werden. Es wird spannend, welches Konzept am 18. 12. 1997 im Stadtrat entgültig verabschiedet wird. Einmischen ist mehr als notwendig!

Dietmar Gaida