Mahnmale in der BRD – vom Umgang mit der Erinnerung

Das Erinnern prägt als ein lebenswichtiger menschlicher Akt unsere Verbindung zur Vergangenheit, und die Art und Weise, wie wir erinnern, bestimmt uns in der Gegenwart.

Die Vergangenheit ist, sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft, die Grundlage der Identitätsbildung und der Zukunft. Somit hat das Erinnern eine hohe gesellschaftspolitische Bedeutung. Doch das Gedächtnis ist, wie man aus eigener Erfahrung weiß, nicht unbedingt verläßlich. Und so instabil und von Verdrängung und Vergessen geprägt das persönliche Gedächtnis ist, so veränderlich ist auch das kollektive Gedächtnis.

Die Zeit der Nationalsozialistischen Herrschaft liegt so lange zurück, daß sich die Geschehnisse in bloße Erinnerung, Bilder und Mythen verwandelt haben. Es gibt kaum noch  Zeitzeugen, so daß das Erinnern fast ausschließlich von öffentlichen Orten, wie Museen, Denkmälern und Gedenkstätten geprägt wird. Je weiter der Holocaust zeitlich in die Ferne rückt, um so stärker rücken seine Denkmäler und Museen in den Vordergrund. Am Beispiel des Umgangs mit den Stätten, an denen NS-Verbrechen begangen wurden und an denen der Opfer gedacht wird, wird deutlich, wie sich die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und der Umgang mit dem Erinnern an diese Zeit entwickelt hat.

Die ersten Denkmale wurden in den westlichen Besatzungszonen unmittelbar nach dem Krieg, in der Regel von den überlebenden Häftlingen selbst, errichtet. Solche Mahnmalsbauten wurden in den Jahren bis 1947 erschaffen, als das gesellschaftliche Klima noch bestimmt wurde von den großen Kriegsverbrecherprozessen, der Entnazifizierung und literarischen Erinnerungsberichten an die NS-Haft.

Viele der von Überlebenden geschaffenen Mahnmale wurden im Laufe der 50er Jahre wieder abgetragen, teilweise weil die einfachen Materialien, die nach dem Krieg zur Verfügung standen, ohne Pflege verrotteten, teilweise weil sie bewußt zerstört wurden, wobei auch das Verrottenlassen einer, wenn auch eher unbewußten  Zerstörung gleichkommt.

Zwei Beispiele dafür befanden sich in Sandbostel und Stukenbrok. Sandbostel war ein Kriegsgefangenenlager. Im April 1945 wurde es Auffanglager für 8.000-10.000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Neuen-gamme, von denen Tausende an Hunger und Typhus starben. Auf dem Gelände befindet sich eine Kriegsgräberstätte, auf der ca. 10.000 Menschen beigesetzt wurden. Stukenbrok  ist eine Kriegsgräberstätte in der ca. 65.000 sowjetische Gefangene beigesetzt sind. Sie befindet sich neben dem Stammlager Senne, dem größten Kriegsgefangenenlager auf deutschem Boden.

Auf diesen beiden Geländen errichteten sowjetische Kriegsgefangene unmittelbar nach Kriegsende jeweils einen Obelisken zum Gedenken an die Toten. Das Mahnmal in Sandbostel wurde Mitte der 50er Jahre gesprengt, und statt dessen wurde auf dem Friedhof der sowjetischen Gefangenen ein Ensemble aus drei Stelen errichtete. Ebenfalls in den 50er Jahren entfernte die Landesregierung  eine rote Fahne aus Glaskeramik, die den Obelisken in Stukenbrok gekrönt hatte, weil sie als sowjetisches Staatssymbol gedeutet wurde. Sie wurde dann durch ein orthodoxes Kreuz ersetzt.

Dieses Vorgehen ist in zweifacher Hinsicht typisch für diese Zeit: Zum einen findet das Gedenken nur noch auf Friedhöfen statt, ohne daß eine historische Information gegeben wird, und zum anderen werden für das Gedenken christliche Symbole benutzt, die das spezifische Schicksal der Opfer und ihre Weltanschauung verschweigen.

Zahlreiche NS-Opfer, häufig aus dem osteuropäischen Ausland, wurden in den 50er Jahren von ihren Ruhestätten in Lagernähe in zentrale Kriegsgräberstätten umgebettet, oft unmittelbar neben Soldaten und SS-Angehörige. An solchen Grabstätten finden sich nichtssagende Tafeln mit Aufschriften wie z.B. ”Den Toten 1933 – 1945”.

Teilweise wurden die Geschehnisse auch einfach ganz ignoriert, wie z.B. in Breitenau bei Kassel, wo noch 1983 auf einer Informationstafel, die einen Überblick über die Geschichte des Klosters gab, die NS-Zeit ganz weggelassen  wurde. Das ehemalige BenediktinerKloster diente als Konzentrationslager und wurde von der Gestapo als Arbeitserziehungs-lager genutzt.

Häufig hat man die Konzentrationslager und NS-Haftstätten auch nach der Befreiung anderer Nutzung zugeführt. In vielen Fällen macht die Weiternutzung deutlich, daß die Haftstätten in einer Kontinuität der Ausgrenzung von Menschen stehen, die häufig schon vor 1933 vorhanden war und nach dem Ende des 2. Weltkriegs übergangslos fortgesetzt wurde. Auch hierfür ist Breitenau bei Kassel ein Beispiel. In Teilen des ehemaligen Benediktinerklosters wurde im 19. Jahrhundert eine ”Korrektions- und Landesarmenanstalt”  eingerichtet, ein Ort der Ausgrenzung mittelloser, alter Menschen, Prostituierter und Wohnungsloser. 1933/34 bestand dort ein frühes Konzentrationslager. Nach der Auflösung des Lagers im März 1934 diente es wieder als ”Arbeitsanstalt” und zur Unterbringung von Bettlern, Sinti, Roma und jüdischen Bürgern. 1940 wurde es ”Arbeitserziehungslager” für Tausende von ausländischen Zwangsarbeitern, vorwiegend aus Polen und der Sowjetunion. Nach dem Krieg hat man in denselben Gebäuden ein Heim für ”schwererziehbare” Mädchen eingerichtet.

Ein weiteres Beispiel für die fragwürdige Weiter- oder Wiedernutzung von Konzentrationslagern und Haftstätten ist das ehemalige Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Im Dezember 1938  richtete die SS in Neuengamme ein Außenlager des KZ Sachsenhausen ein. 1940 wurde Neuengamme eigenständiges Konzentrationslager. Bis Kriegsende  waren dort insgesamt 106.000 Menschen inhaftiert; 55.000 Häftlinge starben dort zwischen 1938 und 1945. 1948 begann man mit dem Bau einer ”Musterstrafanstalt” auf dem Gelände des ehemaligen Häftlingslagers. Hierzu ein Auszug aus einem Schreiben der Hamburger Gefängnisbehörde an den Senat der Stadt Hamburg vom 21.10.1947 zwecks Überlassung des Lagergeländes:

”Das Konzentrationslager Neuengamme lastet wie ein Fluch auf Hamburgs Gewissen, seiner Ehre und seinem Ruf. Der Ruf der Unmenschlichkeit und grauenhaften Schreckens dieses Lagers müssen ausgelöscht werden aus der Erinnerung an unsere Zeit. Hierzu wird jetzt Gelegenheit geboten, nämlich hier eine vorbildliche Gefangenenanstalt aufzubauen, die den Ruf Neuengammes und damit Hamburgs wiederherstellt. Das Schandmal der Vergangenheit möge ausgelöscht werden und Neuengamme uns eine Verpflichtung zur Wiedergutmachung bedeuten, um aus dieser Anstalt nunmehr eine vorbildliche Anstalt der Menschheit und des modernen Strafvollzugs von Weltruf zu schaffen.”

Die Gefängnisverwaltung zog in den ehemaligen Totenblock, die Garagen der SS wurden zu Werkstätten umfunktioniert und die einstige SS-Hauptwache diente als Gefängnisportal und so wurde, nur wenige Jahre nach dem Krieg, aus dem Konzentrationslager Neuengamme die ”Vollzugsanstalt Vierlande”. Der größte Teil des restlichen Geländes verfiel und wuchs zu. Die ersten Mahnmale wurden 1953 von ehemaligen  Gefangenen errichtet. 1965 wurde, nach jahrelangem Drängen der Häftlingsorganisationen,  eine  Gedenkstätte mit einer Skulptur und einer Gedenktafel eingeweiht, wobei zunächst bei der Zahl der Toten eine Null vergessen wurde, die nachträglich eingemeißelt werden mußte. 1970 errichtete man auf dem Gelände eine Jugendstrafanstalt, die schon äußerlich wenig an Wiedergutmachung erinnerte. Erst 1981 erfuhr die Gedenkstätte eine wesentliche Erweiterung durch ein Dokumentenhaus.

Breitenau und Neuengamme sind nur zwei Beispiele, die aber exemplarisch sind für die Weiternutzung von Konzentrationslagern und für die erschreckende Kontinuität, in der diese Nutzung häufig steht. Sie sind Beispiele für den vollkommen unreflektierten und ignoranten Umgang mit der Vergangenheit. Zahlreiche andere Lager  sind  nach  1945  zunächst als Sammelorte fürDisplaced  Persons oder deutsche Flüchtlinge, vor allem aus dem Osten, genutzt worden. Oft wurde danach Gewerbe auf dem Gelände angesiedelt. So wurde z. B. in Neuengamme die ehemalige Ziegelei des Lagers an eine Firma vermietet, die Luxusjachten herstellte.

Daß seit Ende der 50er Jahre überhaupt an einigen Orten Mahnmale oder Gedenksteine aufgestellt wurden, und hin und wieder kleine, ungenügende Ausstellungen an die NS-Geschichte erinnerten, ist alleine auf das kontinuierliche Drängen der Häftlingsorganisationen zurückzuführen, die am Jahrestag ihrer Befreiung die ehemaligen KZ-Standorte besuchen. In Bergen-Belsen stellten überlebende jüdische Gefangene kurz nach 1945 ein Mahnmal auf, daraufhin ließ die britische Militärregierung eine Inschriftenmauer und einen Obelisken errichten, nachdem bereits im Mai 1945 sämtliche KZ-Baracken niedergebrannt worden waren.

Erst zu Beginn der 80er Jahre kam es zu ei-ner regelrechten Bewegung zur Gründung von Gedenkstätten. Das war allerdings nicht die Folge eines plötzlich erwachten Gewissens oder eines Bewußtwerdens der Verantwortung gegenüber den Opfern und der eigenen Geschichte auf Seiten der Politik bzw. des Staates, sondern es wurde ”Geschichte von unten” betrieben.

Initiativen forschten nach Spuren der verdrängten Vergangenheit. Bürger engagierten sich, um Überreste von Konzentrationslagern und KZ-Außenlagern oder Gestapo-Zentralen für Gedenkarbeit zu nutzen. Andere Initativen veranstalteten ”Alternative Stadtrundfahrten”, die in der eigenen, direkten Umgebung Orte der NS-Verfolgung und -Unterdrückung zeigten und damit die Normalität und Allgegenwart des Schreckens verdeutlichten.  Es entstanden Geschichtsarbeitskreise und Work-Shops, die sich auch mit ”vergessenen” Opfergruppen beschäftigten. So wurde 1982 erstmals eine Inschrift für die ermordeten Sinti und Roma an der Gedenkmauer in Bergen-Belsen angebracht.

Erstmalig nahm eine breitere Öffentlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt verdrängte und ”vergessene” Verbrechen  und Ereignisse wahr, wie die Ermordung und Zwangssterilisation psychisch  kranker und behinderter Menschen, die Verfolgung  und  Ermordung  homosexueller Menschen, die über das ganze Land verstreuten  KZ-Außenlager  und  das  Schicksal  der Millionen Zwangsarbeiter und Zwangs-arbeiterinnen und der Kriegsgefangenen.Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß Gedenkstätten zur Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung in Westdeutschland nicht durch staatliche Initiative entstanden sind, sondern durch das Engagement von Einzelpersonen oder Gruppen, von ehemaligen Häftlingen, Organisationen ehemaliger Verfolgter, von Vereinen und Bürgerinitiativen. Der Übernahme öffentlicher Verantwortung durch eine institutionelle Förderung gingen oftmals langwierige und konfliktreiche Auseinandersetzungen voraus. Der Landkreis Bremervörde begründete zum Beispiel seine Nichtbeteiligung an einer Gedenkstätte für Hunderttausende Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge in Sandbostel mit dem Argument, daß er keinen Krieg erklärt habe und für die Behandlung der Gefangenen nicht verantwortlich sei. Ähnlich argumentierten viele Orte, die sich in Lagernähe befanden, obwohl aus diesen Orten Baustoffe und Lebensmittel in das Lager geliefert und Häftlinge als billige Arbeitskräfte mißbraucht wurden.

Trotz vieler Widerstände gibt es mittlerweile etwas mehr als sechzig Gedenkstätten, die an Orten der NS-Verfolgung anhand einer Ausstellung an die Geschichte erinnern und mit haupt- oder ehrenamtlichen MitarbeiterInnen Besucherbetreuung und historische Forschungsarbeit ermöglichen. Die Größe dieser Einrichtungen reicht dabei von der- Gedenkstätte Buchenwald mit über fünfzig MitarbeiterInnen und einem Millionenetat bis hin zu kleinen Initiativen, die von ehrenamtlichen HelferInnen getragen werden. Fast allen Einrichtungen ist gemein, daß ihre Ausstattung und ihre finanziellen Möglichkeiten in keinem Verhältnis zu den Ansprüchen stehen, die die Gesellschaft an sie stellt. Neben diesen Institutionen gibt es noch über 1600 von der Bundesregierung offiziell anerkannte  NS-Haftstätten und ungezählte Gedenktafeln und -steine oder Mahnmale, die vor Ort an die NS-Verbrechen erinnern, ohne daß dort eine inhaltliche Betreuung stattfindet.

Welche Schwierigkeiten auftreten, wenn es darum geht, im Land der Täter der Opfer zu gedenken und sich adäquat mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, zeigt sich deutlich bei der Diskussion um ein Mahnmal für die Opfer des Brandanschlags in Solingen. Heute wie vor fünfzig Jahren scheinen nur wenige bereit zu sein, die Verantwortung, die sich aus der eigenen Geschichte ergibt zu übernehmen und sich damit auseinanderzusetzen.

Anne

Buchtip: ”Politik mit der Erinnerung” von Peter Reichel; Carl Hanser Verlag