Der 12.12.12 ist ein trauriges Datum für die Rechte von Jungen. An diesem Tag stimmte der deutsche Bundestag für die Einführung des §1631d BGB. Entworfen mit Rücksicht auf jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland erlaubt das Gesetz Erziehungsberechtigten über die Beschneidung von Jungen frei zu entscheiden.
Renate Bernhard, freie Journalistin aus Solingen und seit 1998 mit ihren Dokumentarfilmen aktiv in der Aufklärung zur Mädchenbeschneidung war im Mai diesen Jahres auf einem Fachtag der Universität Düsseldorf, der das fünfjährige Bestehen des Jungenbeschneidung-Erlaubnisgeset-zes zum Thema hatte. Sie zieht hier für uns Bilanz:
Das Kölner Urteil
Am 7. Mai 2012 wurde am Kölner Landgericht ein denkwürdiges Urteil besprochen: Die Richter entschieden über den Fall eines muslimischen Jungen, der mit schweren Blutungen als Folge einer Beschneidung ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Dass es hier überhaupt zu einer Anzeige gekommen war, lag an einer vorausgegangenen etwa zehnjährigen wissenschaftlichen und juristischen Entwicklung: Neuere Erkenntnisse in der Medizin über die Bedeutung der Vorhaut und die Folgen einer Beschneidung, die UN-Kinderrechtskonvention (1989), in dessen §24, Absatz 3 steht „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen“, die Einführung des deutschen Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (2000) und eine juristische Debatte über die Rechtmäßigkeit nicht medizinisch indizierter Beschneidungen, die seit etwa 2008 in Deutschland geführt wird und mit Fachartikeln auch in Medizinerkreise vorge-
drungen war.
Die Kölner Richter waren vorsichtig, sie verurteilten die Beschneidung des Jungen als Körperverletzung, entließen den Beschneider aber straffrei, wegen des damals allgemein noch herrschenden Unwissens über die Schädlichkeit von Beschneidungen und also einem anzunehmenden fehlenden Unrechtsbewusstsein des Beschneiders und der Eltern des Kindes.
Das Jungenbeschneidungs-Erlaubnisgesetz
Wie groß das Unwissen war und zum Teil noch ist, zeigte sich nicht nur in der darauffolgenden Debatte in den Medien, sondern auch sieben Monate nach dem Urteil, als am 12.12.2012 das von der damals schwarz-gelben Regierung im Schnellverfahren entwickelte Jungenbeschneidungs-Erlaubnisgesetz (§1631d BGB) vom Bundestag verabschiedet wurde. Ungeachtet dessen wurden wenige Monate danach, im Juli 2013, die Genitalien von Mädchen – nach bald 40jähri-gen Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung – endlich für unantastbar erklärt und diesbezügliche Verstöße mit Freiheitsstrafen belegt (§226a StGB).
Seither haben wir in Deutschland in Bereich der Genitalbeschneidungen nicht nur eine gesetzlich festgelegte Ungleichbehandlung von Mädchen und Jungen, die dem Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes widerspricht, sondern auch die merkwürdige rechtliche Lage, dass Sorgeberechtigte ihre Kinder zwar nicht schlagen dürfen, dass Ihnen aber etwas viel Weitreichendes ausdrücklich erlaubt ist: Sie dürfen den ihnen anvertrauten Jungen einen besonders sensibelen Teil ihres Sexualorgans entfernen lassen. Nein, nicht etwa ausschließlich aus medizinischen Gründen und eventuell zusätzlich noch aus religiö-sen Gründen, sondern egal aus welchem Grund. Der Staat hat die Verantwortung für diesen Eingriff komplett in die Hände der Sorgeberechtigten abgegeben und dafür keinerlei Kontrollmechanismen oder obligatorische Beratungen eingeführt, wie dies etwa beim §218 der Fall ist.
Jüdische Beschneidung – nur 1% aller Betroffenen
Wie heikel das Thema Jungenbeschneidung auch heute noch ist, zeigte der mediale Wirbel im Vorfeld des Düsseldorfer Fachtages. Für die drei Veranstalter der Tagung Jungenbeschneidung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme dem klinischen Institut für Psychosomatische Medizin, der Sektion Kinder- und Jugendpsychosomatik der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und der Betroffenen-Organisation Mogis e.V. schrieb Prof. Matthias Franz in der Rheinischen Post einen Vorbericht. Titel: Beschneidung ist ein Akt der Gewalt. Die Zeitung zeigte dazu das Bild einer jüdischen Beschneidung. Darauf antwortete Franz´ universitärer Kollege Dr. med. Rotem Lanzmann, Vorsitzender des Bundesverbands jüdischer Mediziner mit: Antisemitismus ist ein Akt der Gewalt.
Und schon war das Thema wieder in den Kontext gestellt, der weder seinen Umfang noch seine Komplexität abbildet, der aber genau das verhindert, was nötig wäre, um die neuesten medizinischen und juristischen Erkenntnisse bekannt zu machen.
Bereits 2014 hatte der Kinderarzt Dr. Christoph Kupferschmid in der Fachzeitschrift des Bundesverbandes der Kinder-und Jugendärzte (BVKJ) Kinder- und Jugendarzt vorgerechnet, dass man in Deutschland alljährlich von 28.000 nicht religiös motivierten Beschneidungen ausgehen muss, die nach neueren Erkenntnissen medizinisch völlig grundlos erfolgen.
Jüdische Beschneidungen in Deutschland betreffen dagegen nicht mehr als ein paar hundert Kinder pro Jahr, also höchstens 1% aller von Jungenbeschneidung Betroffenen – bei einer jüdischen Gemeinde von 100.000 Menschen, von der bekannt ist, dass längst nicht mehr alle Jungen beschnitten werden. Denn schon seit dem 19. Jahrhundert gibt es eine jüdische Reformbewegung, die der traditionellen Beschneidung Brit Milah ein unblutiges Ritual entgegenstellt, die Brit Shalom.
Veraltete medizinische Basis
Bei einer Podiumsdiskussion anlässlich des Welttags der genitalen Selbstbestimmung 2016, bei der er den Bund der Kinder- und Jugendärzte vertrat, kritisierte Kupferschmid überdies, Ärzte in Deutschland und der westlichen Welt leideten bis heute an der sexualfeindlichen Tradition des viktorianischen Englands. Noch 1973 habe ein Lehrbuch der Urologie propagiert, Beschneidungen seien gut gegen Masturbation, die nach einer irrigen Vorstellung aus dem 18. Jahrhundert das Hirn erweiche, womit die über 300jährige Medizingeschichte der Genitalbeschneid-ungen in der westlichen Welt ihren Anfang nahm.
Hinzu käme, so Kupferschmid, die heute immer noch verbreitete Unkenntnis vieler Ärzte: Bis 2013 habe es gedauert, bis ein medizinisch-pädriatrisches Lehrbuch neuere Erkenntnisse über die Entwicklung des männlichen Genitales aufgenommen habe. „Fast alle Jungs, die bei uns beschnitten werden, werden auf der Kenntnisbasis von 1949 beschnitten“, einem damals publizierten Lehrbuch folgend, das seither immer und immer wieder abgeschrieben worden sei. „Wenn wir uns überlegen, wir würden Blinddarmoperationen, Narkosen oder andere Operationen auf so einer Basis machen, es wäre ein Sturm der Entrüstung und wir müssten uns als Ärzterk-lich schämen.“
(www.youtube.com/watch?v=JyWazfJFqUw ab Minute 19:23)
Dass die Jungenbeschneidung ein Eingriff mit irreversiblen Folgen ist, der oft viel zu leichtfertig vorgenommen wird, erklärten alle auf der Fachtagung an der Universität Düsseldorf (www.jungenbeschneidung.de) vertretenen ÄrztInnen übereinstimmend:
92% der Jungen sind kerngesund
Kinderchirurg Maximilian Stehr, Chefarzt für Kinderchirurgie an der Cnopf´schen Kinderklinik Nürnberg, erklärte, eine Beschneidung entferne die zentrale erogene Zone am männlichen Glied und sei deshalb kein harmloser Eingriff, zumal es auch bei perfekter medizinischer Ausführung eine Komplikationsrate von 5% gäbe Vorhautverklebungen und -engen seien eine normale Entwicklungsstufe und wüchsen sich meist bis zum Ende der Pubertät von selbst aus. Die einst aufgestellte Norm, bei Schuleintritt müsse die Vorhaut von Jungen komplett zurückzustreifen sein, sei wissenschaftlich überholt. 92% der Jungen, die ihm zur Beschneidung überwiesen würden, hätten ei-nen, ihrem Alter entsprechenden, normalen Entwicklungsstand ohne Beschwerden und müssten nicht beschnitten werden.
Urologe Wolfgang Bühmann verdeutlichte, dass Ärzte zu heilen haben und nicht etwas abzuschneiden, was eine wichtige Funktion hat: sowohl für die Immunabwehr also auch für das sexuelle Funktionieren und dies für beide Partner. Bühmann erklärte die Fälle, in denen eine Beschneidung heute wirklich noch geboten ist: bei Vorhautengen des erwachsenen Mannes, die auf Kortisonsalben nicht ansprechen und im Fall von Entzündungen, bei denen die Salbenbehandlung versagt hat, was meist lediglich bei der seltenen Autoimmun-Erkrankung Lichen Sklerosos der Fall ist.
Die muslimische Hämatologin Susan Hali-meh berichtete, dass sie häufig Komplikationen nach Beschneidungen zu behandeln habe, ebenso wie Kinderchirurg Peter Liedgens, Chefarzt der Kinderchirurgie am Essener Elisabeth-Krankenhaus, der die Studien seines Oberarztes Kolja Eckert vorstellte. Durch dessen Forschungseinsatz wurden die Beschneidungsraten an der Klinik seit 2015 um 94% gesenkt.
Beschneidungs-Erlaubnisgesetz widerspricht deutschen Grundrechten
Juraprofessor Jörg Scheinfeld legte dar, dass das Beschneidungs-Erlaubnisgesetz ein juristisches Kuriosum darstelle. Es widerspreche gleich mehreren unserer Grundrechte: Persönlichkeitsrecht, körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung, Gleichheitsgrundsatz und sei somit verfassungswidrig.
Die 130 Teilnehmer der Fachtagung verabschiedeten eine Abschluss-Resolution mit im wesentlichen diesen Punkten: Genitale Unversehrtheit ist ein Menschenrecht aller Kinder. Ärzte sollten ausschließlich bei medizinischer Indikation beschneiden. Es brauche Aufklärungsinitiativen sowie flächendeckende Beratung für Eltern mit Beschneidungs-wunsch. Der Staat sollte Therapie- und Beratungsangebote sowie Forschung zu akuten wie langfristigen physischen und psychischen Folgen fördern. Die umfassende Erlaubnis von Vorhautamputationen müsse aufgehoben und die Klagemöglichkeit von Betroffenen wiederhergestellt werden. Es könne nicht sein, dass Betroffene selbst bei schwersten Folgen keine Entschädigung geltend machen können.