Steine aus dem Glashaus …

Meinungsfreiheit, rechts gestrickt

Egal, ob’s hilft oder nicht: Überall auf der Welt verschreiben die Politiker ihren Völkern das gleiche Rezept: Geld, Kapital, das blinde Interesse der Bessergestellten, sich zu bereichern, und die geballte Macht des Staates soll alle Wunden heilen – alle anderen sollen mitjubeln. Das soll dann die “Nation” sein. Medizin, die krank macht? Und die auch noch pur? Normal! Wer das nicht normal findet, gilt, wenn er Glück hat, als Spinner. Am besten funktioniert die ganze Kiste, wenn man ihr/ihm das Wort verbietet – schau her, hier ist das Strafgesetzbuch, kapiert? Sag das noch mal, dann freut sich der Staatsanwalt!

Dennoch weist man hierzulande weit von sich, “unsere” Bundesrepublik, angeblich doch eine Festung der “Demokratie”, mit Staaten, in denen jeder den Mund zu halten hat, in Beziehung zu setzen. Ganz besonders viel bildet man sich darauf ein, daß Meinungsfreiheit herrsche. Doch die heilige Kuh ist – infolge gehorsamsbildender Umzüchtung – längst zur lahmen Ente geworden. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit? Ob sie nun tatsächlich herrscht oder nicht, scheint den meisten piep-egal. Hauptsache, man bringt nicht jeden gleich um wegen seiner Meinung. Und die Zeiten, in denen ein “falsches” Wort in Deutschland “Selbstmord” bedeuten konnte, sind ja längst vorbei … Elegant übersieht man dabei, daß heute bereits längst wieder ein Zustand erreicht ist, wo rechte Schlägerbanden auch wegen “falscher” Meinungsäußerungen morden. Und erwischt man den ein oder anderen Mörder, setzt sich gleich die Verharmlosungsmaschinerie der Medien in Gang – und arbeitet wie ein Uhrwerk: Die Jungs waren eben stinkeblau, und “ein Wort ergab das andere” … wie es halt so ist, wenn Jugendliche einen “über den Durst trinken”. Beachten soll man auch noch den “sozialen Brennpunkt”. Soso.

Ansonsten Schwamm drüber. Sind eh alles Einzelfälle. Hintermänner, Anstifter? Lächerlich, danach zu fragen – alle Spuren sind verwischt. Vollzugsmeldung: Alles klar! Die Krone der Meinungsfreiheit scheint dann erreicht, wenn die modernen Kolosse von Medienkonzernen (Springer, Kirch, Berlusconi) die Meinung der Leute so produzieren, wie sie gerade gebraucht wird.

Rechtspropaganda à la Kissel – ein Faß mit Sauce

Ganz bestimmt nicht gebraucht wird die Meinung des Solinger Bauunternehmers Günther Kissel. Sie ist so rechts, daß sich Kissel selbst damit brüstet, ein Strafverfahren angehängt zu bekommen, wenn er sie kundtun würde. Aber wer wie Kissel sein angebliches Schweigen schon so lauthals in die Welt hineinruft,der redet meist wie ein Buch … hartnäckig und penetrant. Aber haben deshalb die Leute in Solingen oder sonstwo etwa Bedarf an einschlägigen Meinungsäußerungen des Günther Kissel? Wenn der schon immer damit anfängt, welch furchtbares Unrecht Deutschland heute durch angebliche Lügen über die Nazizeit und den zweiten Weltkrieg zugefügt werde, halten wir doch einmal fest:

Auf Nazi-Befehl wurde “fanatisch” und “rücksichtslos” die Unterjochung aller “Ost-Völker” betrieben, politische Gegner, ZwangsarbeiterInnen, die “Juden in Europa” (Hitler-Rede 1938) und andere angebliche “Rassen” mit der Wucht deutscher Technologie bis auf Überbleibsel “ausgerottet”. Das waren im Namen Deutschlands begangene Verbrechen, so unbeschreiblich und unvorstellbar, daß jeder, der das noch immer nicht mitgekriegt hat, wenigstens den Mund halten sollte – insbesondere auch Herr Kissel; denn

  1. ist es penetrant, wenn er – auch angesichts von ungeheuerlichstem Völkermord und Nazi-Barbarei – immer wieder mit seinen Märchen von der weißen Weste der deutschen Wehrmachtsangehörigen anfängt und
  2. wie ein mieser Clown auch noch ständig seinen Zeigefinger hebt, daß sich ja keiner etwas Unrühmliches über die Nazizeit erzählen lassen solle;
  3. muß man sich das nicht fortwährend bieten lassen;
  4. spornt Kissels unqualifiziertes Gequatsche, in Verbindung mit Geldern, die er, der Multimillionär, locker macht, Rechtsradikale zu organisierter Propaganda und vernetztem Bandenwesen an;
  5. sind, so dumm seine Sprüche auch sein mögen, Kissels kriegsverherrlichende öffentliche Tiraden, die die Opfer des Holocaust beleidigen, in Tateinheit mit rechtsradikalismusförderndem Sponsorentum, eindeutig demokratie- und menschenrechtsfeindlich.

Daß an seiner Spendentätigkeit für die NPD Anstoß genommen wurde, fand Kissel völlig überflüssig.

Der nostalgische Reiz des Völkermordens

Wie finden wir’s? Kissel selbst zeigte durch die Jahre mit salbungsvollen, sehr engagierten Solidaritätsaktionen, wofür sein Herz schlägt.

  • Als ihm durch die nationale Jung-Neonazi-Szene ein medienträchtiges Kampfziel vorgegeben wurde, ließ der Altveteran seinen gesamten Fuhrpark Flagge zeigen – Kissel-Rapid-Lkw trugen die “Freiheit für Rudolf Heß”-Aufkleber von Baustelle zu Baustelle.
  • Als der rechtsradikale Drahtzieher Thies Chistophersen eine (auch noch milde) Gefängnisstrafe absaß, da jammerte Kissel in fortgesetzten Bittbriefen an die zuständige Justiz, welch großes Unrecht dieser ach so wunderbaren Person angetan werde – Kissel zog alle Register, um diesen besonders frechen Naziideologen rauszupauken.
  • Als “Wilhelm Tell von Auschwitz” wurde sein Solinger Kamerad Weise, der in Auschwitz geübt hatte, Kindern Äpfel vom Kopf zu schießen, bevor er die Kinder erschoß, vor Gericht von überlebenden Zeugen wiedererkannt. Urteil: Lebenslänglich für Weise. D a s – nicht etwa das Leid der Kinder, sondern das des mordenden Kameraden – hat Günther Kissel herzzerreißend geschmerzt, wie er gegenüber dem Bundesgerichtshof bekundete – in leidenschaftlichem Plädoyer für die Freilassung dieses ach so tugendhaften Menschen. (DM 100.000 bot Kissel als Bürgschaft an dafür, daß Weise ganz bestimmt nicht fliehen würde. Kaum zu glauben – der erste, der den Haftbefahl des BGH in Händen hielt, war Weise. Und Good-Bye. Die Polizei kam drei Stunden später. Monate später hat man ihn doch gekriegt, in der Schweiz.)
  • Daran, daß sich Kissel offenbar um die Fähigkeit gebracht hat, Menschen von Unmenschen zu unterscheiden, liegt wohl, daß ihm Nazikriegsverbrecher besonders am Herzen liegen, wenn sie verurteilt worden sind. Eigentlich verwunderlich, daß der schwerreiche Solinger Hobbyjurist seinerzeit dem Gerichtshof in Tel-Aviv nicht vorgejammert hat, was für ein edler Mensch der Kamerad Eichmann sei, und man solle da ja keinen Fehler machen.
  • Es wäre aber auch zuviel verlangt von Kissel, daß er mit jedem so gut Freund sein müßte wie mit dem mehrfach einschlägig verurteilten Ex-General Otto Remer, supermilitanter Obernazi und Leibwächter Hitlers in den Tagen des “Endsiegs”. Auch einer dieser großartigen Menschen, für die Duzfreund Günther die Hand ins Feuer legen würde – und einen Humor hat der edle Otto: “Der Angeklagte Otto Ernst Remer stand nunmehr am Tisch auf, zog sein Feuerzeug heraus, ließ das Gas ausströmen und schnüffelte an diesem Gas. Dabei fragte er: ‘Was ist das?’ Nach einer kurzen Kunstpause bemerkte er: ‘Das ist ein Jude, der sich nach Auschwitz sehnt’” (aus einem Urteil des Amtsgerichts Kaufbeuren). Während der ekelhafte Scherzbold nach Spanien entflohen war, bestand regelmäßiger Telefonkontakt zur Heimatfront mit dem kaum weniger humorigen Günther.
  • Der empfahl derweilen forsch, sich bei den berüchtigtsten Holocaust-Leugnern der Welt über die historische Wahrheit zu informieren, die heutzutage leider so grausam unterdrückt werde. Die beste Bewährungsprobe für jeden Deutschen mit Ehre im Leib hat er immer wieder in Hitlers Kriegen und Völkermorden gesehen.
  • Kissels Spezialität, die er von seinem hochgeschätzten Idol Irving, dem Weltmeister der Auschwitzlüge, gelernt hat: Das Unrecht, das den Offizieren der deutschen Wehrmacht durch angebliche üble Nachrede zugefügt worden ist, gegen die Toten der Vernichtungslager aufzurechnen. Warum man die Opfer immer nur bei den anderen suche? Das Allerallertraurigste  sei: “Die Waffen-SS” habe den “höchsten Blutzoll” bezahlt (und das habe ihr niemand gedankt)!

Brauner Fleck auf weißen Westen – unsichtbar?

In der Nostalgie vergangener Blutbäder verschwimmt nicht die Ruchlosigkeit dieses erlogenen Zahlenspiels. Dies sei Herrn Kissel hiermit ins Stammbuch geschrieben und auch allen Zeitgenossen, Zeitungen, Gerichten, die Kissel Flankenschutz geben wollen.

Nur vor dem Ideal äußerster Verherrlichung des deutschen Eroberungskriegs, den der Bauunternehmer als Offizier mitgeführt hat, schrumpft das Leid der Opfer von Völkermord und Ausrottungsterror auf das Kisselsche Maß ganz kleiner Münze. Halten wir weiter fest, daß das durch die öffentlichen Äußerungen zu Tage getretene Denken Günther Kissels zu dem Miesesten, Dümmsten und Ächtungswürdigsten zählt, das in den Hirnen von menschenverachtenden sogenannten “Ehrenmännern” herumkaspern kann. Herrgottnochmal, warum wird er dann nicht geächtet? Verkehrte Welt: Bei allen möglichen Feierstunden verschenkt Kissel Schriftgut, das ausgerechnet jenes beim Nationalsozialismus entlehnte dummdreiste Weltbild enthält und … “meinen Mitarbeitern der Firma Kissel-Rapid, meinen Freunden und Geschäftsfreunden und vor allen Dingen der Jugend”(!) ganz besonders anzuempfehlen sei. Hier eine Leseprobe: “Allein die Juden verstehen es, ihre Leiden als die ärgsten darzustellen. Die Tatsache, daß die Judenverfolgung nicht erst in der NS-Zeit begann, sondern schon seit Jahrhunderten in den verschiedensten Ländern der Welt erfolgte, mag nicht allein an den Verfolgern gelegen haben” (aus einem Buch des neonazistischen Autors Woche, das Kissel mit besten Empfehlungen an seine Arbeiter und Angestellten weiterreichte).

Als einige Solinger Vereinigungen (Antifa, Frauengruppe Courage, Solinger Appell, SOS Rassismus, Öffentlichkeit gegen Gewalt u.a.) sich das Treiben des rechten Bauimperators nicht mehr schweigend mitansehen wollten und endlich für eine öffentliche Ächtung Kissels eintraten, hagelte es Leserbriefe im Solinger Tageblatt. Die meisten der abgedruckten Stimmen (unter ihnen auch immer die gleichen rechten Leserbrief-Gewohnheitsschreiber) beglückten den ST-Leser mit engagierter Ehrenrettung für den armen Kissel: Er lasse doch so viele wertvolle Gebäude bauen, schaffe Arbeitsplätze und sei überhaupt einer der Sympathischsten unter uns.

Interessant auch, daß das völkermordsverniedlichende Reden und Handeln eines Unternehmers nicht von der vielgepriesenen “Wirtschaft” selbst geahndet wird. Daß dieser Mann zum Obermeister der Innung gewählt worden ist, muß auch auf die Tolerierung der dargelegten Gesinnung in der Innung zurückzuführen sein. Überhaupt: Keiner der vielen “Geschäftsfreunde”, aber auch nicht die Oberen der Stadt, scheinen irgendwelche Sorgen zu haben, daß unser schönes “Made in Solingen”, angereichert mit braunen Roststellen, drei Jahre nach dem in aller Welt bekannten Brandanschlag noch irgendeinen Imageverlust erleiden könnte. Bei allem Abscheu gegenüber solch gefühllosem Schläfchen bei denen, die für das Minus in Solingens Kassen bürgen, bleibt Verwunderung: Ist die örtliche Politik nun von allen guten Geistern verlassen?

Narrenfreiheit für Kissel? – Keine Chance!

Doch dieselbe Politik – mit deren Bauaufträgen Kissel zum Multimillionär geworden ist – gibt sich erhaben. Rechtfertigungen für ihr Handeln oder Unterlassen hat sie scheinbar nicht nötig. Es gibt doch die Strafjustiz, die lästige Kritiker zum Schweigen bringt.

Da kam ein Artikelschreiber in der tacheles-Ausgabe von November 1995 zu der Auffassung, Kissel sei ein rechter “Drahtzieher”. Trifft dies nicht zu? Kissels ganz persönliches, jahrzehntelanges Engagement zur Verbreitung rechtsextremen Schrifttums und Gedankenguts – insbesondere von ganz einschlägigen, gerichtskundig gewordenen Auschwitzlügnern -, für das dem Baumillionär keine Mark zu schade ist, stand und steht zur Debatte. Darf Kissels Einsatz für die Verherrlichung des nationalsozialistischen Eroberungskriegs, gepaart mit eigenständigen Hilfestellungen zur propagandistischen Verbreitung der Auschwitzlüge, etwa nicht als Beitrag zur „Volxverhetzung“ gewertet werden? Und ist Kissels öffentliche Äußerung, es sei längst erwiesen, daß in Auschwitz 2,9 Millionen Menschen weniger umgebracht worden seien, als die amtlichen Statistiken glauben machen wollten, ergänzt um seinen Hinweis, daß weitere öffentliche „Aufklärung“ in dieser Richtung nottue, nicht leicht als integraler Bestandteil der „Auschwitzlüge“ wiederzuerkennen?

Es soll nicht bestritten werden, daß es womöglich auch andere Worte gibt, mit denen das Treiben Günther Kissels verständlich zusammengefaßt werden kann. Das Anziehen von Glacé-Handschuhen allerdings wollen wir dem bekennenden Sympathisanten der Waffen-SS überlassen. Sogar die von ihm vorgeschlagene Sprachregelung, er sei “nationalkonservativ” (Kissel über sich selbst), können wir gelten lassen: Ganz konservativ feiert er noch heute den Boom nationalen Hochgefühls in Nazidiktatur und Weltkrieg.

Allerdings sei daran erinnert, daß die Massenmorde, die Kissel heute noch zu Tränen über die Mörder rühren, jeder Beschreibung spotten. Glacé-Handschuhe hin, Glacé-Handschuhe her: Der von Kissel geführte Streit um die falsche Wortwahl ist doch nichts als der Versuch, die Debatte auf einen lächerlichen Nebenschauplatz zu verlagern.

Daß dieser unwürdige Ort ausgerechnet das Amtsgericht Solingen sein soll, hat nicht nur Kissel zu verantworten, der eh keine Rolle lieber spielt als die der beleidigten Leberwurst. Seine Anzeige gegen tacheles verarbeitete die Staatsanwaltschaft Wuppertal zu ihrer schriftlichen Anklage. Diese nahm das Amtsgericht Solingen zum Anlaß, das Hauptverfahren gegen Jürgen Müller von tacheles zu eröffnen.

Was am 8. August dabei herauskommen wird, scheint vorgezeichnet. Dem befaßten Gericht trauen wir kaum zu, daß es nach Sachlage entscheiden wird. Wenn alle das Mäntelchen über den Baufürsten decken, warum sollte der Richter aus der Reihe tanzen? Unsere Argumente können noch so wahr sein, die Argumente des Günther Kissel noch so daneben, mit vereinten Kräften wird man den braunen Zahn ziehen wollen, indem man Jürgen Müller einen Maulkorb mit Stempel umhängt.

Doch erstens gibt es kein Verfallsdatum weder für Völkermord noch für die Zustimmung hierzu. Dieses Stück Moral hatte sich die internationale Staatengemeinschaft bisher noch erhalten. Und zweitens: Die Freunde von Jürgen Müller brauchen sich wenigstens nicht zu schämen, im Gegenteil.

Otto Mann